StartseiteLinke, schaut in den neuen Nahen Osten

Ari Shavit, Haaretz, 14.8.2014


Linke können nicht länger die schreckliche Plage der Brutalität im mittleren Osten ignorieren und die Tatsache, dass Millionen von Arabern dort ohne Rechte und ohne Zukunftsaussichten leben.

Rauch steigt auf, nachdem ein Erdöllager beim Zusammenprall zwischen rivalisierenden Milizen in der Nähe des internationalen Flughafens in Tripoli in Brand geriet. / Photo by AFP

Der neue mittlere Osten ist brutal. Viele Sunniten hassen Shiiten und viele Shiiten hassen Sunniten. viele Sunniten und Shiiten hassen Christen, Juden, Frauen und Homosexuelle. In zahlreichen Ländern der Region hasst ein beträchtlicher Teil der Mehrheit die Minderheiten – Kurden, Drusen, Kopten, Turkmenen, Jessiden. Monarchen und säkulare Menschen hassen die Muslimbrüder und Mitglieder der Muslimbrüderschaft hassen säkulare Menschen und Monarchen.

Dieser Hass verwandelt sich in Gewalt. Die Gewalt wird heftig. Zuviele Dämonen erwachen und beginnen, die Menschen zu verschlingen. Häretiker werden ermordet, Sünder gesteinigt, Frauen in die Sklaverei verkauft. Ein neuer mittlerer Osten zeigt sein Gesicht in diesen Tagen, und es ist das Gesicht des Horrors.

Der mittlere Osten war schon in der Vergangenheit gefärbt mit interreligiösem Fanatizismus und Feindschaft zwischen den Stämmen, doch das ottomanische Reich, die kolonialen Mächte und arabischer Nationalismus hat die Mitglieder anderer Religionen und Stämme dazu gezwungen, zusammenzuleben und den urzeitlichen Hass zurückzuhalten. Der Kollaps des modernen Nationalismus in den letzten Jahren hat zu einem Zusammenbruch der gemeinsamen Rahmenbedingungen geführt und zu einem furchtbaren Ausbruch von Verbrechen des Hasses. Deswegen sehen wir heute entsetzliche Szenen, die wie aus dem Mittelalter zu stammen scheinen. Deswegen stehen wir heute dem sambationischen Fluss des Barbarentums gegenüber. Die abgehackten Köpfe und Glieder unschuldiger Menschen sind mehr als eine blutrauschende Metapher. In weiten Teilen des mittleren Ostens gibt es keinen Platz für Menschenrechte, Menschenwürde oder Freiheit. In vielen Regionen in Ostasien und Nordafrika gibt es keinen Platz für Individuen, Gleiche Rechte für Minderheiten, oder Mitgefühl für die Schwachen.

Gewalttätiger Fanatismus ist im Iraq und in Syrien ausser Kontrolle geraten, wütet aber auch in Libyen und im Libanon und bedroht Ägypten und Jordanien. Nur Tunesien und Kurdistan halten immer noch die Fackel des Fortschritts hoch. In allen anderen Staaten der Region besteht die Auswahl aus reaktionären Monarchien, militärischen Diktaturen, Theokratie oder mörderischem Chaos.

Es ist schwierig für den westlichen Linken, den mittleren Osten zu beobachten. Seine Weltsicht gründet darauf, den Westen zu kritisieren und breite Amnestie all jenen zu gewähren, die als dessen Opfer betrachtet werden. Dieser linke Wertekodex verbietet ihm, Böses in der dritten Welt als solches zu benennen. Deshalb hat er gegen den Krieg in Vietnam demonstriert, blieb jedoch still angesichts des Genozids der roten Khmer in Kambodscha. Er opponiert gegen die Kriege im Iraq und in Afghanistan, bleibt aber still angesichts der Unterdrückung im Iran.

Das ist auch der Grund, weshalb er hastig Israel denunziert, während er gegenüber dem Faschismus der Hamas tolerant bleibt. Der westliche Linke weiss, wie er gegen die westliche Machtausübung Widerstand leisten muss und tut das auch gerne. Doch beim Anblick von Arabern, die Araber abschlachten, ist er verloren. Gegen wen soll er auch wüten? Gegen wen kann er demonstrieren? Auf wen wird er seinen heiligen Zorn richten?

Der amerikanische Präsident Barack Obama hat diese Woche das richtige getan, als er den ermordeten Menschen im Nordiraq humanitäre und militärische Hilfe gewährte. Staatssekretär John Kerry hat richtig gehandelt als er kompromisslose Dinge über die ISIS sagte. Führende Medien der vereinigten Staaten und von Europa haben heilige Arbeit geleistet, und tun dies immer noch, um den Horror aufzudecken.

Doch all dies ist nicht genug. Der neue mittlere Osten lässt bohrende Fragen aufsteigen, die einen Aufruhr im linken Denken produzieren müssen. Linke können nicht länger die schreckliche Plage der Brutalität im mittleren Osten ignorieren und die Tatsache, dass Millionen von Arabern ohne Rechte und ohne Zukunft leben müssen.

Während sie berechtigte Kritik an Israel üben (an der Besetzung, den Siedlungen, rassistischen Anmutungen), müssen sie die Augen höher heben und den Raum sehen, in dem Israel sich befindet. Ein Raum, in welchem Jessiden massakriert werden und Christen verfolgt und Frauen gesteinigt. Ein Raum in dem es keine Demokratie gibt, oder Frieden, oder Gnade. Dieses ist ein mittlerer Osten, den die Linken sehen müssen, wie er ist – und sich mutig mit seinen Krankheiten auseinandersetzen.


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