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Diagnose: Kann man sich spahn

Die Neuer Zürcher Zeitung erweist dem Ruf der Schweizer Presse als „Westfernsehen für Leseratten“ alle Ehre und lädt den neuen deutschen Gesundheitsminister Jens Spahn zum Interview. Vielleicht hatte er gehofft, dass er damit in Deutschland keine große Aufmerksamkeit erregt. Nur um sicher zu gehen, dass jene Hoffnung in jedem Fall vergeblich ist, und weil Herr Spahn als so eine Art Anti-Merkel und letzter Rettungsring der CDU gehandelt wird, kümmere ich mich darum. Diese konservative Mogelpackung gehört frühzeitig ins Recycling.

Spahn auf die NZZ-Frage, wie seine teuren Versprechen im Gesundheitswesen eigentlich finanziert werden sollen: „Wissen Sie, diese Debatte kenne ich in- und auswendig. Ich frage dann immer: Was soll denn rausfliegen aus dem Leistungskatalog? Mir fällt nichts ein. Das Gesundheitswesen wird teurer werden, weil wir dank dem Fortschritt immer älter werden. Um das zu finanzieren, brauchen wir wirtschaftliches Wachstum.“ [1]

So so. „Wirtschaftliches Wachstum“ also soll es richten. Raffiniert. Das in einer Zeit, in der Deutschland in immer mehr Bereichen den Anschluss verpasst, weil es seine wichtigsten Rohstoffe vernachlässigt: Bildung. Innovation. Technologieführerschaft. Infrastruktur. Investitionssicherheit, etc. Durch die zunehmende Digitalisierung gehen allein in den nächsten fünf Jahren, also innerhalb der zumindest theoretisch fast erreichbaren Amtszeit von Jens Spahn, ca. 3,4 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren. [2] Und als wäre das nicht schlimm genug, müssen die Sozialsysteme immer mehr und immer älter werdende Menschen stemmen, die nie in sie eingezahlt haben und das — sein wir ehrlich — vorrausichtlich auch nie tun werden.

Aber hey, wirtschaftliches Wachstum. Und zwar kontinuierlich, immer mehr, und auf unabsehbare Zeit. Viel Erfolg dabei. Man könnte das Pferd auch ganz anders aufzäumen und fragen, ob unser Gesundheitssystem tatsächlich so fortschrittlich und zielführend ist, wenn es uns vor allem dabei hilft, länger „krank“ (pflegebedürftig, personalaufwändig, technik- und medikamentenabhängig, etc.) zu leben. Das wäre so eine Debatte für sich, aber dieses Fass mache ich lieber nicht auf… Ich habe jedenfalls keine Antwort für dieses Problem. Muss ich auch gar nicht, ich bin ja nicht Gesundheitsminister. Jens Spahn schon. Er hätte genauso gut mit „Wir schaffen das!“ antworten können und man ahnt irgendwie, warum das die letzte Frage der NZZ zum Thema Gesundheit war. Im Interview mit dem Gesundheitsminister…

Ab hier wird es deutlich lustiger, weil er jetzt über Sachverhalte spricht, von denen er noch weniger Ahnung hat. Ja, das geht. Hätte ich auch nicht für möglich gehalten. Wo fangen wir da am besten an. Ah, beispielsweise diese Perle von Antwort aus dem Fachbereich Ethnoakustik:

„NZZ: Gibt es bei Ihnen Stille? — SPAHN: Ich kann ganz still sein, ja. Und ich genieße das auch. Ich höre gerne zu, weil ich von der Erfahrung anderer viel lerne. So war es auch im Spätsommer 2015. Das war eine Situation, die es in der Geschichte so kaum je gab: Mehr als eine Million Menschen aus einem völlig anderen Kulturraum kamen in wenigen Monaten ins viel reichere Europa. Das setzt natürlich Konflikte frei. Ich habe in dieser Zeit oft mit mir gerungen.“

Ja, das genießen seit 2015 sehr viele Menschen. Und die ringen jetzt nicht nur mit sich selbst, sondern mit den freigesetzten Konflikten. Beim Joggen im Park, auf dem Weg zu Arbeit, in öffentlichen Verkehrsmitteln, in der Schlange vor der Tafel, im brennenden Bett… Hätte er einfach mal die Fresse gehalten und wirklich gut zugehört, hätte er verdammt viel lernen können. Bringt halt nur nichts in der eigenen Echokammer.

„SPAHN: Natürlich gehören die Muslime zu Deutschland. — NZZ: Auch die Salafisten? — SPAHN: Die sind zumindest mal hier. Leider. Aber die Frage ist doch: Wollen alle Muslime zu Deutschland gehören? Noch erleben wir zu oft ein Nebeneinander. Der reaktionäre Teil des Islams macht das Zusammenleben schwierig.“

Jensischnucki, der reaktionäre Teil des Islam IST DER ISLAM. Ja, „nicht alle Muslime“, schon klar. Das muss mir natürlich niemand abkaufen, aber vielleicht ja Hamed Abdel-Samad, der sich ohne Personenschützer weder in Deutschland noch sonst irgendwo frei bewegen kann. Weil er den Islam kritisiert hat. [3] Da stimmt doch schon grundsätzlich irgendwas nicht. Wenn man den Buddhismus oder (naheliegender) das Christentum kritisiert, wird man doch auch nicht von irgendwelchen Mönchen niedergemetzelt. Einfach mal drüber nachdenken.

„NZZ: Meinen Sie den mächtigen türkischen Dachverband Ditib? Ist der ein ‚bisschen radikal‘? — SPAHN: Der ist zumindest radikal, wenn es um die Politik in der Türkei und Erdogan geht. Ditib ist in weiten Teilen keine religiöse, sondern eine politische Einrichtung. In der Vergangenheit hat Ditib wichtige Arbeit bei der Integration von türkischen Gastarbeitern geleistet. Damals war die Türkei aber noch ein laizistischer Staat. Heute müssen wir von der Ditib verlangen, sich endlich von Ankara zu lösen.“

Ja. Genauso gut könnte man auch verlangen, dass sich die Katholische Kirche vom Vatikan löst. Ernsthaft mal. Ist das wirklich so gut gelaufen mit der „Integration“ der Türken? Oder sind sie hauptsächlich gut angesiedelt worden? Ich stelle die Frage einfach mal so in den Raum. Und wenn das der erfolgreiche Teil der Ditib-Arbeit war, was sagt uns das über Ditib heute? Warum ist diese Organisation als „in weiten Teilen politische Einrichtung“ überhaupt Ansprechpartner in religiösen Fragen?

„SPAHN: Im Grenzschutz ist etwas passiert. […] blah blah […] Es ist aber schon einiges passiert. — NZZ: Tatsächlich? — SPAHN: Ja, deswegen müssen wir im Sinne Europas viel weiter gehen. Frontex braucht 100.000 Mann und soll wirklich die Grenze schützen. Allein Deutschland hat über 40.000 Bundespolizisten. Das gibt ein Gefühl dafür, was nötig ist. — NZZ: Wie viele Mitarbeiter hat Frontex heute? — SPAHN: 250.“

Ich weiß nicht mal, wie ich…

„SPAHN: Ich wäre auch offen für eine partielle Souveränitätsabgabe, wenn dadurch die Grenzen sicherer würden.“

Stopp. Das ist ein verdammt großes „Wenn“. Bisher sind die Grenzen durch die partielle (und mal ehrlich: eigentlich partiell auch komplette) Souveränitätsabgabe entgegen aller Versprechen UNSICHERER geworden. Sehr viel unsicherer. Außen und innen sowieso. Und diesmal wird alles besser? Versprochen? Pionierehrenwort? Weil, das hier irritiert mich doch sehr:

„SPAHN: Bei aller Kritik an Viktor Orban: Er setzt an der Grenze europäisches Recht um und sichert Europas Grenze.“

Da guck mal einer schau. Und das, obwohl sich Herr Orban unter Strafandrohung Brüssel widersetzt, die Geschicke seines Landes in die eigenen Hände genommen und quasi im Alleingang und unter lauten Buhrufen — nicht zuletzt aus dem Bundestag — seinen Laden „dicht gemacht hat“. Hätte er nach dem Rezept Spahn gehandelt, gäbe es dort heute keine sichere Grenze. Unter rein praktischen Gesichtspunkten erscheint mir das kurzfristig erfolgreicher. Aber wir können natürlich auch erst mal 99.750 Mitarbeiter für Frontex rekrutieren und so lange auf das Beste hoffen.

Ab hier wird es immer absurder, weil die NZZ offenbar gemerkt hat, dass sie einem Dünnbrettbohrer aufgesessen ist und folglich ihren inneren Bluthund von der Leine lässt:

„NZZ: Wenn Europas Grenzschutz versagt, wird die AfD weiter zulegen. Haben Sie Angst vor der Partei? — SPAHN: Nein.“

Mein persönliche Voraussage ist: Das wird einmal als das berühmte letzte Wort von Jens Spahn in die Geschichtsbücher eingehen. Falls dort überhaupt irgendwas von ihm eingeht. Da wäre ich mir nicht so sicher… Oder vielleicht auch dieses intellektuelle Kleinod:

„NZZ: Ist die AfD demokratietheoretisch eine gute Sache? — SPAHN: Nein. Es wäre besser gewesen, der Bundestag hätte schon früher eine richtige Opposition gehabt. Demokratie braucht den Wettstreit um politische Ideen und Konzepte. Der Wettstreit kam in den letzten Jahren zu kurz.“

Macht Sinn. Jetzt hat der Bundestag eine richtige Opposition, besser spät als nie, aber das ist (nicht mal demokratietheoretisch) auch keine gute Sache. Weil… Ja, warum eigentlich? Jetzt ist er doch da, der Wettstreit um politische Ideen und Konzepte, jetzt kommt er garantiert nicht mehr zu kurz. Aber vielleicht hat der Jens auch generell Probleme mit dem Konzept der Demokratie an sich:

„NZZ: Hat der Bundestag versagt? — SPAHN: Nein, aber große Koalitionen können die Debatte lähmen. — NZZ: Jetzt koalieren Sie wieder mit der SPD. — SPAHN: Ja. Aber wir wollen dieses Mal unterscheidbarer bleiben. Unser Land profitiert davon, wenn Union und SPD wieder eigenständigere Profile entwickeln.“

So funktioniert das nicht. Erstens mal kann man nicht gleichzeitig in der Regierung und in der Opposition sitzen. Zweitens ist eine Koalition, wo jeder sich auf Kosten des Partners profiliert, effektiv gelähmt und ist den Vertrag nicht wert, auf dem sie vereinbart wurde. Das wäre an sich eine gute Nachricht, wenn wäre da nicht: Drittens will man ja gar nicht. Worin sollen sich diese Profile denn unterscheiden? Die linksextreme Nische ist der SPD von den Grünen und der Linken versperrt, die konservative bis Mitte ging der Union an die AfD verloren und dazwischen eingeklemmt japst die FDP nach Luft. Soll das also ein Wettbewerb werden, wer die bessere SPD ist?

Auch sehr schön ist das folgende Gedanken-Pingpong, das von einer geistigen Kapitulation in Folge chronischer Rechts-Links-Schwäche kaum zu unterscheiden ist:

„NZZ: Könnten Sie sich 2021 eine Koalition mit der FDP und der AfD vorstellen? — SPAHN: Nein. Ich will die AfD überflüssig machen. — NZZ: Sie selbst stehen doch einem Georg Pazderski näher als, sagen wir, Ralf Stegner von der SPD. — SPAHN: Wem bin ich näher? — NZZ: Pazderski. Stellvertretender AfD-Vorsitzender. — SPAHN: Kenne ich nicht. Die AfD-Führung ist der NPD heute näher als der Union. Uns trennen grundsätzliche Dinge: unser Menschenbild, die parlamentarische Haltung, die Sprache. Wir wollen eine Gesellschaft, die durch Werte zusammenhält und nicht spaltet. — NZZ: Ihnen wird auch oft vorgeworfen, ein Spalter zu sein. — SPAHN: Ich bin dafür, dass wir Probleme offen ansprechen, um gemeinsam nach Antworten zu suchen. So stärken wir den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.“

Jo. Er kennt die AfD-Führung gar nicht, weiß sie aber politisch gleich mal falsch zu verorten. Zugegeben, aus Perspektive der CDU 2018 ist so ziemlich alles näher an der NPD, sogar die FDP. Das liegt allerdings nicht an der AfD, das kommt halt vom ständigen Linksrucken. Den Unterschied im Menschenbild erkenne ich nicht, aber Gott sei Dank gibt es sehr, sehr deutliche Differenzen in der parlamentarischen Haltung und in der Sprache. Die Spaltersprache ist allerdings dem einzig wahren Wertespahn vorbehalten. Krass. Ist schon wieder Wahlkampf? Diese Mischung aus Realitätsverweigerung, Selbstüberschätzung, Ignoranz und Stuss ist schwer zu toppen. Wenn das „die neue CDU“ ist, der Generationenwechsel, dann wird sich die Union 2021 keine Gedanken um die Regierungsbildung machen müssen… Fazit: Kann man sich spahn. Der Nächste, bitte!

[1] https://www.nzz.ch/international/frontex-braucht-100-000-mann-und-soll-wirklich-die-grenze-schuetzen-ld.1371586
[2] https://dunkeldeutschland.blog-net.ch/2018/03/29/wie-die-uno-den-grossen-austausch-gezielt-vorantreibt/
[3] http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/islam-bekenntnis-der-kanzlerin-frau-merkel-sie-irren-sich/11229266.html

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