Gemeinschaft Versus Gesellschaft in Europa
Kenan Malik, April 2015, Foreign Affairs
Vor dreissig Jahren sahen viele Europäer Multikulturalismus – die Umarmung einer integrativen, vielfältigen Gesellschaft – als eine Antwort auf Europas soziale Probleme. Heute betrachten ihn viele als deren Ursache. Diese Wahrnehmung hat einige Mainstream-Politiker, darunter der britische Premierminister David Cameron und Bundeskanzlerin Angela Merkel, dazu gebracht, öffentlich den Multikulturalismus anzuprangern und sich gegen seine Gefahren auszusprechen. Es hat den Erfolg der rechtsextremen Parteien und populistischen Politiker in ganz Europa, von der Partei für die Freiheit in den Niederlanden bis zum Front National in Frankreich angeheizt. Und in den extremsten Fällen hat er obszöne Akte der Gewalt, wie Anders Behring Breiviks mörderischen Amoklauf auf der norwegischen Insel Utoya im Juli 2011, inspiriert.
Hie kam es zu diesem Wandel? Nach den Kritikern des Multikulturalismus hat Europa übermässige Zuwanderung zugelassen, ohne genug Integration zu fordern – ein Missverhältnis, das den sozialen Zusammenhalt ausgehöhlt hat, nationale Identitäten untergraben, und das Vertrauen der Öffentlichkeit abgebaut. Die Befürworter der Multikulturalität hingegen entgegnen, dass das Problem nicht zuviel Vielfalt sei, sondern zuviel Rassismus.
Doch die Wahrheit über Multikulturalismus ist weitaus komplexer als die beiden Seiten zulassen wollen, und die Debatte darüber geht oft in Spitzfindigkeiten über. Der Multikulturalismus ist zu einem Stellvertreter für andere soziale und politische Themen geworden: Migration, Identität, Politikverdrossenheit, Niedergang der Arbeiterklasse. Andere Länder, darüber hinaus, haben verschiedene Wege eingeschlagen. Grossbritannien hat sich bemüht, den verschiedenen ethnischen Gemeinschaften gleiche Spiesse zu geben im politischen System. Deutschland hat Einwanderer ermutigt, ihr eigenes Leben statt der Gewährung der Staatsbürgerschaft zu verfolgen. Und Frankreich hat multikulturelle Politik abgelehnt zugunsten einer Assimilationspolitik. Die konkreten Ergebnisse waren ebenfalls unterschiedlich: in Grossbritannien gab es kommunale Gewalt; in Deutschland sind türkische Gemeinden weiter von der Gesellschaft abgetrieben; und in Frankreich sind die Beziehungen zwischen den Behörden und den nordafrikanischen Gemeinschaften stark belastet. Aber überall sind die übergreifenden Folgen die gleichen gewesen: fragmentierten Gesellschaften, entfremdete Minderheiten, und verärgerte Bürger.
Als politisches Instrument hat Multikulturalismus nicht nur eine Antwort auf die Vielfalt funktioniet, sondern auch als Mittel, sie einzuschränken. Und diese Einsicht offenbart ein Paradoxon. Multikulturelle Politik akzeptiert, wie selbstverständlich, dass Gesellschaften vielfältig sind, doch gehen sie implizit davon aus, dass eine solche Vielfalt an den Rändern der Minderheiten endet. Sie sind bestrebt, die Vielfalt zu institutionalisiseren, indem sie die Menschen in ethnische und kulturelle Schubladen einordnen – in eine singuläre, homogene muslimische Gemeinschaft, zum Beispiel – und ihre Bedürfnisse und Rechte entsprechend zu definieren. Eine solche Politik, mit anderen Worten, hat dazu beigetragen, diese Trennungen, die sie eigentlich verwalten sollte, überhaupt erst zu kreieren.
Der Mythos Vielfalt
Das Entwirren der vielen Stränge der Multikulturalismusdebatte erfordert das Verständnis des Konzepts an sich. Der Begriff „multikulturell“ definiert sowohl eine Gesellschaft, die besonders vielfältig ist, in der Regel als Folge der Einwanderung, als auch die Politik, die notwendig ist, eine solche Gesellschaft zu verwalten. Er verkörpert damit sowohl eine Beschreibung der Gesellschaft, als auch ein Rezept für den Umgang mit ihr. Die Verschmelzung der beiden – das wahrgenommene Problem mit der angeblichen Lösung – hat den Knoten im Herzen der Debatte zusammengeschnürt. Diesen Knoten zu lösen erfordert eine sorgfältige Bewertung der einzelnen Punkte.
Befürworter wie Kritiker des Multikulturalismus akzeptieren im Grossen und Ganzen die Prämisse, dass Masseneinwanderung die europäischen Gesellschaften verwandelt hat, indem sie sie vielfältiger machte. Zu einem gewissen Grad scheint dies offensichtlich. Deutschland ist heute das zweitbeliebteste Ziel für Einwanderer aus aller Welt nach den Vereinigten Staaten. Im Jahr 2013 waren es mehr als zehn Millionen Menschen, also etwas mehr als 12 Prozent der Bevölkerung, die im Ausland geboren waren. In Österreich waren es 16 Prozent; in Schweden 15 Prozent; und in Frankreich und Grossbritannien rund 12 Prozent. Aus historischer Perspektive ist jedoch der Anspruch, dass diese Länder vielfältiger sind als je zuvor, nicht so einfach, wie es scheinen mag. Europäischen Gesellschaften des neunzehnten Jahrhunderts mögen aus heutiger Sicht homogen ausssehen, doch so sahen sich diese Gesellschaften damals nicht.
Betrachten wir Frankreich. In den Jahren der französischen Revolution, beispielsweise, sprach nur die Hälfte der Bevölkerung Französisch und nur rund 12 Prozent sprachen es korrekt. Wie der Historiker Eugen Weber zeigte, benötigte die Modernisierung und Vereinheitlichung Frankreichs nach der Revolution einen traumatischen und langwierigenn Prozess der Selbstkolonisierung in Sachen Kultur, Bildung, Politik und Wirtschaft. Dieser Kraftakt produzierte den modernen französischen Staat und gebar Vorstellungen der französischen (und europäischen) Überlegenheit gegenüber aussereuropäischen Kulturen. Aber er verstärkte auch ein Gefühl dafür, wie sozial und kulturell disparat die Mehrheit der Bevölkerung noch immer war. In einer Ansprache an der Medizinisch-Psychologischen Gesellschaft von Paris im Jahre 1857 fragte sich der Christ und Sozialist Philippe Buchez, wie es passieren konnte, dass „innerhalb einer Population wie der unseren sich Rassen bilden können – nicht nur eine, sondern mehrere Rassen, so elend, unterlegen und bastardisiert, dass sie tiefer als die minderwertigsten wilden Rassen eingestuft werden können, da ihre Unterlegenheit manchmal jenseits aller Heilung ist.“ Die „Rassen“, die Buchez solche Angst verursachten, waren nicht Einwanderer aus Afrika oder Asien, sondern die arme Landbevölkerung in Frankreich.
In der viktorianischen Ära betrachteten auch viele Briten die städtische Arbeiterklasse und die Armen in ländlichen Gebieten wie das andere. Eine Darstellung des Arbeiterlebens im Ost-Londoner Stadtteil Bethnal Green, in einer Ausgabe von 1864 des Saturday Review, einer belesenen liberalen Zeitschrift der damaligen Zeit erschienen, war typisch für die viktorianische bürgerliche Haltung. „Die Armen von Bethnal Green“, erklärt die Geschichte, seien „eine Kaste entfernt, eine Rasse, von der wir nichts wissen, deren Leben ganz unterschiedliche Komplexität hat als bei uns, Menschen, mit denen wir keinen Kontakt haben.“ Ähnliches galt, nach dem Artikel, für „die grosse Masse der bäuerlichen Armen“. Obwohl die Unterschiede zwischen Sklaven und Herren als „eklatanter“ eingestuft wurden, als jene zwischen den Betuchten und Armen, so boten sie doch „einen sehr fairen Vergleich;“ in der Tat waren die Unterschiede so tiefgreifend, dass sie „so etwas wie Vereine oder Kameradschaft“ verhinderten.
Heute ist Bethnal Green das Herzstück der bangladeschischen Gemeinschaft in East London. Viele weisse Briten sehen ihre Bewohner als neue Arme von Bethnal Green, kulturell und rassisch verschieden von ihnen. Doch nur diejenigen an den politischen Rändern würden die Unterschiede zwischen weissen Briten und deren Nachbarn aus Bangladesch mit jenen von Meistern und Sklaven vergleichen. Die sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen einem viktorianischen Gentleman oder Fabrikbesitzer auf der einen Seite, und einem Bauern oder Maschinenschlosser auf der anderen, waren in Wirklichkeit viel grösser als die zwischen einem weissen Einwohner und einem, der aus Bangladesh stammt, heute. So sehr sie sich gegenseitig als unterschiedlich sehen, tragen eine 16-Jährige mit Herkunft Bangladesch, die in Bethnal Green lebt, und eine weisse 16-Jährige wohl die gleichen Kleider, hören die gleiche Musik, und folgen dem gleichen Fussballverein. Das Einkaufszentrum, der Sportplatz und das Internet binden sie zusammen, was eine Reihe von Erfahrungen und kulturellen Praktiken schafft, die ähnlicher sind als alles andere in der Vergangenheit.
Eine ähnliche Geschichtsvergessenheit plagt die Diskussion um die Einwanderung. Viele Kritiker des Multikulturalismus legen nahe, dass die Einwanderung nach Europa heute anders ist, als in früheren Zeiten. In seinem Buch „Reflexionen über die Revolution in Europa“, legt der Journalist Christopher Caldwell nahe, dass vor dem Zweiten Weltkrieg Einwanderer in europäischen Ländern fast ausschliesslich aus dem Kontinent kamen und daher leicht assimiliert werden konnten. „Innereuropäische Bewegungen mit dem Wort Einwanderung zu beschreiben,“ argumentiert Caldwell, „macht nur wenig mehr Sinn, als eine New Yorker in Kalifornier als ‚Einwanderer‘ zu beschreiben.“ Laut Caldwell unterscheidet sich die Vorkriegs-Einwanderung zwischen den europäischen Nationen von der Nachkriegseinwanderung von ausserhalb Europas, denn „die Zuwanderung aus den Nachbarländern wirft nicht die allerbedenklichsten Einwanderungsfragen auf, wie zum Beispiel ‚wie gut werden sie zu uns passen?‘, ‚ist Assimilation das, was sie wollen?‘, und, vor allem ‚Wo ist ihre wahre Loyalität?'“
Und doch haben diese Fragen auch die europäischen Einwanderer in den Vorkriegsjahren begrüsst. Wie der Gelehrte Max Silverman schrieb, ist die Vorstellung, dass Frankreich Einwanderer aus anderen Teilen Europas mit Leichtigkeit assimiliert hat vor dem Zweiten Weltkrieg eine „Retrospektive Illusion“ ist. Und ziemlich das gleiche gilt für Grossbritannien. 1903 haben Zeugen der Royal Commission on Alien Immigration die Befürchtung geäussert, dass Neuankömmlinge in Grossbritannien geneigt sein würden, zu leben „nach ihren Traditionen und Gepflogenheiten.“ Es gab auch Bedenken, wie es der Zeitungsverleger J.L. Silver ausdrückte, dass „die debilen, kränklichen und üblen Produkte Europas auf den englischen Stock aufgepfropft“ werden könnten. Das erste Einwanderungsgesetz des Landes, das Ausländergesetz von 1905, wurde in erster Linie entwickelt, um den Fluss der europäischen Juden zu bremsen. Ohne ein solches Gesetz, argumentierte der damalige Premierminister Arthur Balfour zu der Zeit, würde die britische „Nationalität nicht die gleiche sein und würde die Nationalität nicht diejenige sein, die wir als unser Erbe betrachten wollen im Wandel der Zeiten, die noch kommen werden.“ Das Echo der zeitgenössischen Ängste ist unverkennbar.
Wettrennen nach oben
Ob das zeitgenössische Europa wirklich vielfältiger ist, als es das im neunzehnten Jahrhundert war, bleibt zu diskutieren, aber die Tatsache, dass die Europäer es als vielfältiger betrachten, ist unbestritten. Dies basiert zu einem grossen Teil auf Veränderungen, wie die Menschen die sozialen Unterschiede definieren. Vor eineinhalb Jahrhunderten war Klasse ein viel wichtiger Rahmen für das Verständnis der sozialen Interaktionen. Wie schwierig es immer sein mag, das heute zu begreifen, viele sahen zur damaligen Zeit Rassenunterschiede weniger in Bezug auf die Unterschiede in der Hautfarbe, sondern in der Klasse oder sozialen Stellung. Die meisten Denker des neunzehnten Jahrhunderts waren nicht besorgt wegen der Fremden, die die Grenzen ihrer Länder überquerten, sondern wegen denen, die die dunklen Bereiche innerhalb derselben bewohnten.
In den letzten Jahrzehnten jedoch hat Klasse an Bedeutung in Europa verloren, sowohl als politische Kategorie, als auch als Kennzeichnung für die soziale Identität. Zur gleichen Zeit hat sich Kultur zu einem zunehmend zentralen Medium entwickelt, durch das die Menschen soziale Unterschiede wahrnehmen. Die Verschiebung spiegelt breitere Trends. Die ideologischen Gräben, die die Politik für einen Grossteil der letzten 200 Jahre geprägt haben, sind zurückgegangen, und die alten Unterscheidungen zwischen links und rechts haben immer weniger Bedeutung. Während die Arbeiterklasse an wirtschaftlicher und politischer Macht verloren hat, sind Gewerkschaften und kollektivistische Ideologien zurückgegangen. Der Markt hat sich inzwischen in fast alle Ecken und Enden des gesellschaftlichen Lebens ausgeweitet. Und Institutionen, die traditionellerweise Personen zusammengebracht haben, von Gewerkschaften bis zur Kirche, sind aus dem öffentlichen Leben verschwunden.
In der Folge haben Europäer damit begonnen, sich selbst und ihre sozialen Zugehörigkeiten auf eine andere Art zu sehen. Zunehmend definieren sie soziale Solidarität nicht in politischer Hinsicht, sondern im Hinblick auf die Volkszugehörigkeit, Kultur oder ihren Glauben. Und sie weniger besorgt mit der Bestimmung der Gesellschaft, die sie schaffen möchten, als mit der Definition der Gemeinschaft, der sie angehören wollen. Diese beiden Fragen sind natürlich eng verwandt, und jeder Sinn für soziale Identität muss beide berücksichtigen. Doch während sich das ideologische Spektrum verengt hat und die Mechanismen für den Wandel erodierten, ist die Politik der Ideologie übergegangen zu einer Politik der Identität. Es ist vor diesem Hintergrund, dass die Europäer ihre Heimatländern als besonders, sogar unmöglich, divers betrachten – und Wege formuliert haben, darauf zu reagieren.
Unter meinem Schirm
Bei der Beschreibung der modernen europäischen Gesellschaften als äusserst vielfältig, ist Multikulturalismus deutlich mängelbehaftet. Wie steht es denn um das Ziel des Multikulturalismus, diese vermeintliche Vielfalt zu verwalten? In den vergangenen drei Jahrzehnten haben viele europäische Nationen multikulturelle Politik verabschiedet, aber sie taten das auf sehr verschiedene Weise. Vergleicht man nur zwei dieser Vergangenheiten, die von Grossbritannien und der von Deutschland, und das Verständnis dessen, was sie gemeinsam haben, verrät viel über Multikulturalismus an sich.
Einer der am weitesten verbreiteten Mythen in der europäischen Politik ist, dass die Regierungen multikulturelle Politik verabschiedet haben, weil Minderheiten ihre Unterschiede behaupten wollten. Obwohl Fragen zur kulturellen Assimilation sicherlich von politischen Eliten vertieft wurden, haben sie nicht, bis vor kurzem, die Einwanderer selbst beschäftigt. Als eine grosse Zahl von Einwanderern aus der Karibik, Indien und Pakistan in Grossbritannien ankam in den späten 1940er und 1950er Jahren, um einen Arbeitskräftemangel zu füllen, befürchteten britische Beamte, dass dies das Gefühl der Identität des Landes untergraben könnte. Wie ein Bericht der Regierung im Jahr 1953 warnte: „Eine grosse farbige Gemeinschaft als besonderes Merkmal unseres sozialen Lebens würde … das Konzept von England oder Grossbritannien, dem die Menschen britischer Herkunft im gesamten Commonwealth anhängen, schwächen.“
Die Einwanderer brachten Traditionen und Sitten aus ihrer Heimat mit, derer sie oft sehr stolz sind. Aber sie waren nur selten beschäftigt mit der Wahrung ihrer kulturellen Unterschiede, noch betrachteten sie Kultur im Allgemeinen als politisches Thema. Was sie beunruhigte, war nicht der Wunsch, anders behandelt werden zu wollen, sondern die Tatsache, dass sie anders behandelt wurden. Rassismus und Ungleichheit, nicht Religion und Ethnizität, waren ihre Hauptanliegen. In den folgenden Jahrzehnten hat eine neue Generation von schwarzen und asiatischen Aktivistinnen, die Gruppen bildeten wie die Asian Youth Movements und das Race-Today-Kollektiv, auf diese Missstände eingewirkt mit der Organisation von Streiks und Protesten, die Diskriminierung am Arbeitsplatz, Deportationen, und die Brutalität der Polizei anprangerten. Diese Bemühungen kamen zu einem explosiven Höhepunkt in einer Reihe von Unruhen, die durch die Innenstädte Grossbrittanniens fuhren in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren.
Zu diesem Zeitpunkt erkannten britische Behörden, dass, ausser die Minderheiten würden eine politische Beteiligung am System erhalten, die Spannungen weiter die städtische Stabilität bedrohen würden. Es war in diesem Zusammenhang, dass multikulturelle Politik entstand. Der Staat, sowohl auf der nationalen und der lokalen Ebene, war Pionier einer neuen Strategie, schwarzen und asiatischen Gemeinschaften in den normalen politischen Prozess hineinzuziehen durch die Benennung spezifischer Organisationen oder Führer, um ihre Interessen zu vertreten. Im Kern definiert der Ansatz die Konzepte von Rassismus und Gleichheit neu. Rassismus war nun nicht nur die Verweigerung der Gleichberechtigung, sondern auch die Verweigerung des Rechts, anders zu sein. Und Gleichberechtigung bedeutete nicht mehr nur den Besitz von Rechten, die Rasse, ethnische Herkunft, Kultur und Glauben überwinden; es bedeutete, unterschiedliche Rechte zu haben aufgrund all dessen.
Nehmen wir den Fall von Birmingham, zweitgrösste Stadt Grossbritanniens. Im Jahr 1985 wurde der Stadtkreis Handsworth von Unruhen durchgeschüttelt durch einen schwelenden Groll gegen Armut, Arbeitslosigkeit, und insbesondere Polizeischikanenen. Zwei Menschen starben und Dutzende wurden in den gewalttätigen Auseinandersetzungen verletzt. In der Zeit nach den Unruhen versuchte die Stadtverwaltung, die Minderheiten durch die Schaffung von neun so genannten Dachorganisationen, die für ihre Mitglieder eintreten sollten in Fragen der Stadtpolitik. Diese Ausschüsse entschieden nach den Bedürfnissen der jeweiligen Gemeinschaft, an wen und wieviele Ressourcen ausgeschüttet werden sollten, und wie die politische Macht verteilt werden sollte. Sie wurden effektiv Ersatzstimmen für ethnisch definierte Lehen.
Der Stadtrat hatte gehofft, die Minderheiten in den demokratischen Prozess einzubeziehen, doch die Gruppen kämpften, um ihre individuellen und kollektiven Mandate festzulegen. Einige von ihnen, wie die afrikanische und karibische Volksbewegung, repräsentierten eine Volksgruppe, während andere, wie der Rat der Schwarz-geführten-Kirchen auch religiös waren. Vielfalt unter den Gruppen traf auf Vielfalt innerhalb derselben; nicht alle Leute, die angeblich vom Bangladesch-Islamische-Projekte-Beratenden-Ausschuss vertreten wurden, zum Beispiel, waren ebenso fromm. Doch das Vorhaben der Stadtverwaltung wies effektiv jedes Mitglied einer Minderheit einer diskreten Gemeinschaft zu, definierte die Bedürfnisse jeder Gruppe als Ganzes, und stellte die verschiedenen Organisationen in Konkurrenz zueinander um Ressourcen der Stadt. Und jeder, der ausserhalb dieser definierten Gemeinden fiel wurde effektiv vom multikulturellen Prozess vollkommen ausgeschlossen.
Das Problem mit der Politik von Birmingham, wie 2005 beobachtet von Joy Warmington, Direktor der damaligen Birmingham Race Action Partnership (jetzt BRAP), eine gemeinnützige Organisation zur Verringerung der Ungleichheit, ist, dass sie „tendenziell Ethnizität als Schlüssel für Ansprüche unterstreichen. Es wird als gute Praxis akzeptiert, die Ressourcen auf ethnischen oder Glaubenslinien aufzuteilen. Statt also über das Erfüllen der Bedürfnisse der Menschen nachzudenken und wie die Verteilung von Ressourcen gerecht erfolgen kann, werden Organisationen gezwungen, über die Verteilung der ethnischen Herkunft nachzudenken.“ Die Folgen waren katastrophal. Im Oktober 2005, zwei Jahrzehnte nach den ursprünglichen Handsworth-Ausschreitungen, brach Gewalt im benachbarten Lozells aus. 1985 waren asiatische, schwarze und weisse Demonstranten zusammen auf der Strasse, um gegen Armut, Arbeitslosigkeit und Schikanen durch die Polizei zu protestieren. Im Jahr 2005 fand der Kampf zwischen Schwarzen und Asiaten statt. Der Funke war ein Gerücht, das nie bestätigt wurde, dass eine Gruppe von asiatischen Männer ein jamaikanisches Mädchen vergewaltigt hatte. Der Kampf dauerte ein ganzes Wochenende.
Warum kämpften zwei Gemeinschaften, die 1985 Seite an Seite gekämpft hatten, im Jahr 2005 gegeneinander? Die Antwort liegt im Wesentlichen in der multikulturellen Politik Birminghams. Wie eine wissenschaftliche Studie der Politik Birmingham feststellte: „Das Modell des Engagements durch Trägergruppen hat tendenziell zu Wettbewerb zwischen den BME [Schwarz und ethnischen Minderheiten] Gemeinden um Ressourcen geführt. Statt die Bedürfnisse und konfessionsübergreifende Arbeiten zu priorisieren, haben die verschiedenen Trägergruppen im Allgemeinen versucht, ihre eigenen Interessen zu maximieren.“
Die Politik des Stadtrates hat, mit anderen Worten, nicht nur die Menschen näher an bestimmte Identitäten gebunden, sondern führte auch dazu, dass sie andere Gruppen fürchteten und Ressentiments gegen sie hatten, weil sie Konkurrenten um Macht und Einfluss waren. Die Identität einer Person musste deshalb auf unverwechselbare Weise von den Identitäten der anderen Gruppen unterschieden werden: Ein Bangladeschi in Birmingham zu sein, bedeutete auch, nicht irisch, nicht Sikh, und nicht karibisch zu sein. Die Folge war die Schaffung von dem, was der Ökonom Amartya Sen als „Pluraler Monokulturalismus“ bezeichnete – eine Politik, die getrieben ist durch den Mythos, die Gesellschaft setze sich aus unterscheidbaren, homogenen Kulturen zusammen, die umeinander tanzen. Das Ergebnis in Birmingham war die Spaltung zwischen schwarzen und asiatischen Gemeinschaften in einem solchen Ausmass, dass diese Spaltung in kommunale Gewalt ausbrach.
Getrennt und ungleich
Deutschlands Weg zum Multikulturalismus war anders als der Grossbritanniens, obwohl der Ausgangspunkt der gleiche war. Wie viele andere Länder in Westeuropa war Deutschland in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem immensen Arbeitskräftemangel konfrontiert und rekrutierte aktiv ausländische Arbeitnehmer. Anders als in Grossbritannien kamen die neuen Arbeitnehmer nicht aus den ehemaligen Kolonien, sondern aus den Ländern rund ums Mittelmeer: zuerst von Griechenland, Italien und Spanien, und dann aus der Türkei. Sie kamen auch nicht als Einwanderer, noch weniger als potentielle Bürger, sondern als sogenannte Gastarbeiter, von denen erwartet wurde, in ihre Herkunftsländer zurückzukehren, wenn die deutsche Wirtschaft ihre Dienste nicht mehr benötigt.
Mit der Zeit jedoch, verwandelten sich diese Gäste, die überwiegende Mehrheit von ihnen Türken, von einer vorübergehenden Notwendigkeit in eine ständige Präsenz. Dies war zum Teil, weil Deutschland weiterhin auf ihre Arbeit angewiesen war, und zum Teil, weil die Einwanderer, und noch mehr ihre Kinder, Deutschland als ihre Heimat sahen. Aber der deutsche Staat fuhr fort, sie als Aussenseiter zu behandeln und verweigerte ihnen die Staatsbürgerschaft.
Deutsche Staatsbürgerschaft basierte bis vor kurzem auf dem Prinzip des ius sanguinis, durch die man Staatsangehörigkeit nur erwarb, wenn die Eltern Bürger waren. Das Prinzip schloss nicht nur Immigranten der ersten Generation von der Staatsbürgerschaft aus, sondern auch die in Deutschland geborenen Kinder. Im Jahr 1999 erleichterte es ein neues Staatsangehörigkeitsrecht den Immigranten, die Staatsbürgerschaft zu erwerben. Doch die meisten Türken bleiben Aussenseiter. Von den drei Millionen Menschen türkischer Herkunft in Deutschland ist es nur etwa 800.000 gelungen, die Staatsbürgerschaft zu erwerben.
Statt Einwanderer als Gleiche willkommen zu heissen, behandelte die deutsche Politik das so genannte türkische Problem durch eine Politik des Multikulturalismus. Seit den 1980er Jahren hat die Regierung türkische Einwanderer ermutigt, ihre eigene Kultur, Sprache und Lebensweise zu bewahren. Die Politik repräsentiert nicht so sehr eine Achtung der Vielfalt, als ein bequemes Mittel zur Vermeidung der Frage, wie eine gemeinsame, umfassende Kultur geschaffen werden kann. Und seine Hauptfolge war die Entstehung von Parallelgesellschaften.
Einwanderer der ersten Generation waren weitgehend säkular, und diejenigen, die religiöse waren, waren selten Hardliner in ihren Überzeugungen und Praktiken. Heute besuchen fast ein Drittel der erwachsenen Türken in Deutschland regelmässig Moscheen, eine höhere Rate als bei den anderen türkischen Gemeinden in Westeuropa und auch in vielen Teilen der Türkei. Auf ähnliche Weise haben türkische Frauen der ersten Generation fast nie Kopftücher getragen; heute tun das viele ihrer Töchter. Ohne einen Anreiz, sich an der nationalen Gemeinschaft beteiligen zu können, machen sich viele Türken nicht einmal die Mühe, Deutsch zu lernen.
Zur gleichen Zeit, als die multikulturelle Politik in Deutschland die Türken aufforderte, sich der deutsche Gesellschaft mit Gleichgültigkeit zu nähern, hat sie Deutsche dazu gebracht, der türkischen Kultur mit zunehmender Feindseligkeit zu begegnen. Beliebte Vorstellungen davon, was es bedeutet, ein Deutscher zu sein, sind teilweise im Gegensatz zu den wahrgenommenen Werten und Überzeugungen der ausgeschlossenen Einwanderergemeinschaft definiert worden. Eine Umfrage des französischen Meinungsforschungsinstitut Ifop 2011 ergab, dass 40 Prozent der Deutschen die Präsenz der islamischen Gemeinden als „eine Bedrohung“ für ihre nationale Identität betrachten. Eine weitere Umfrage von der Universität Bielefeld im Jahr 2005 liess vermuten, dass drei von vier Deutschen glaubten, dass die muslimische Kultur nicht in die westliche Welt passen. Anti-muslimische Gruppen wie Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes, oder PEGIDA, sind auf dem Vormarsch, und Anti-Einwanderungs-Proteste in Städten im ganzen Land im Januar dieses Jahres waren einige der grössten in der jüngsten Vergangenheit. Viele deutsche Politiker, darunter Merkel, haben eine starke Haltung gegen die anti-muslimische Bewegung eingenommen. Aber der Schaden ist bereits getan worden.
Auswärtsvergabe der Politik
In Grossbritannien und Deutschland, sind Regierungen daran gescheitert, die Komplexität, Elastizität, und die schiere Gegensätzlichkeit der Identität zu erkennen. Persönliche Identitäten entstehen aus Beziehungen – nicht nur persönliche Bindungen, sondern auch solche sozialer Natur – die sich ständig verändern.
Nehmen wir die muslimische Identität. Heute gibt es viel Gerede in den europäischen Ländern über eine so genannte muslimische Gemeinschaft – ihrer Ansichten, ihrer Bedürfnisse, ihrer Wünsche. Aber das Konzept ist völlig neu. Bis Ende der 1980er Jahre hielten sich nur wenige muslimische Einwanderer einer derartigen Sache angehörig. Das war nicht, weil sie nur wenige an der Zahl waren. In Frankreich, Deutschland und Grossbritannien, zum Beispiel, gab es in den 1980er Jahren bereits grosse und etablierte Gemeinden an Einwanderern aus Südasien, Nordafrika und der Türkei.
Die erste Generation der nordafrikanischen Einwanderer in Frankreich war im Grossen und Ganzen weltlich, wie auch die erste Generation türkischer Einwanderer in Deutschland. Im Gegensatz dazu war die erste Welle der südasiatischen Einwanderer in Grossbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg mehr religiös. Doch auch sie dachten nicht an sich selbst als Muslime zuerst, sondern als Punjabis oder Bengalen oder Sylhetis. Obwohl fromm, trugen sie ihren Glauben leicht. Viele Männer tranken Alkohol. Nur wenige Frauen trugen ein Kopftuch, geschweige denn eine Burka oder einen Niqab (ein vollständiger Gesichtsschleier). Die meisten besuchten Moschee nur gelegentlich. Der Islam war in ihren Augen nicht eine allumfassende Philosophie. Ihr Glaube definierte ihre Beziehung zu Gott, nicht eine sakrosankte öffentliche Identität.
Mitglieder der zweiten Generation von Briten mit muslimischem Hintergrund waren noch weniger geneigt, sich mit ihrer Religion zu identifizieren. Gleiches galt für diejenigen, deren Eltern Hindu oder Sikh waren. Religiöse Organisationen waren innerhalb der Minderheiten kaum sichtbar. Die Organisationen, die Einwanderer verbanden, waren vor allem säkular und oft politisch; In Grossbritannien zum Beispiel zählten die Asian Youth Movements, die den Rassismus bekämpften, und der indische Arbeiterverein, der sich auf Arbeitsrechte konzentriert, dazu.
Erst Ende der 1980er Jahre ist die Frage der kulturellen Unterschiede wichtig geworden. Eine Generation, die ironischerweise weit mehr integriert und verwestlicht ist als die erste, so stellte sich heraus, stellte sich als eindringlicher auf die Aufrechterhaltung ihrer angeblichen Unterscheidbarkeit zu pochen. Die Gründe für diese Verschiebung sind komplex. Teilweise liegen sie in einem Gewirr von grösseren sozialen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen im Laufe des letzten halben Jahrhunderts, wie dem Zusammenbruch der Linken und der Anstieg der Identitätspolitik. Teilweise liegen sie in internationalen Entwicklungen begründet, wie zum Beispiel der iranischen Revolution von 1979 und des Bosnienkrieges der frühen 1990er Jahre, die beide eine wichtige Rolle spielten bei der Förderung eines Bewusstseins für muslimische Identität in Europa. Und teilweise liegen sie in der europäischen multikulturellen Politik begründet.
Gruppenidentitäten sind keine natürlichen Kategorien; sie ergeben sich aus der sozialen Interaktion. Aber als Kulturkategorien die offizielle Weihe bekamen, erschienen bestimmte Identitäten plötzlich festgezurrt. Durch die Kanalisierung finanzieller Ressourcen und der politischen Macht durch ethnisch begründete Organisationen, haben Regierungen bestimmten ethnischen Identitäten eine Form von Authentizität verliehen und sie anderen verweigert.
Multikulturelle Politik versucht, eine Brücke zu schlagen zwischen dem Staat und den Minderheiten, indem sie bestimmte gemeinnützige Organisationen und Führer zu Vermittlern zu machen versucht. Statt an die Muslime und andere Minderheiten als Staatsbürger zu appellieren, neigen Politiker dazu, anzunehmen, dass Minderheiten Treue eher zu ihrem Glauben oder ihrer ethnischen Gemeinschaft wahren. Effektiv übergeben die Regierungen ihre politische Verantwortung an die Minderheitsführer.
Solche Führer sind jedoch selten repräsentativ für ihre Gemeinschaften. Das ist aber keine Überraschung: Keine einzelne Gruppe oder Reihe von Führern könnte eine einzelne weisse Gemeinschaft repräsentieren. Einige weisse Europäer sind konservativ, viele sind liberal, und wieder andere sind kommunistisch oder neofaschistisch. Und die meisten Weissen würden ihre Interessen nicht als spezifisch „weiss“ sehen. Ein weisser Christ hat wohl mehr mit einem schwarzen Christen gemein, als mit einem weissen Atheisten; ein weisser Sozialist würde wahrscheinlich eher denken wie ein Sozialist aus Bangladesh, als wie ein weisser Konservativer; usw. Muslime und Sikhs und schwarze aus der Karibik sind nicht anders; hier liegt der grundlegende Fehler des Multikulturalismus.
Assimiliere jetzt
Die französische Politik der Assimilation wird allgemein als der Gegenpol des Multikulturalismus angesehen, den französische Politiker stets stolz abgelehnt haben. Im Gegensatz zum Rest von Europa bestehen sie darauf, Frankreich behandle jeden einzelnen als Bürger und nicht als Mitglied einer bestimmten rassischen, ethnischen oder kulturellen Gruppe. In Wirklichkeit aber ist Frankreich als sozial gespalten wie Deutschland oder Grossbritannien, und dies auf auffallend ähnliche Weise.
Fragen rund um die französische Sozialpolitik und soziale Spaltung des Landes kam deutlich in den Fokus in Paris im Januar dieses Jahres, als islamistische bewaffnete Männer 12 Menschen erschossen in den Geschäftsräumen der Satirezeitschrift Charlie Hebdo und vier Juden in einem koscheren Supermarkt. Französische Politiker hatten lange multikulturellen Politik als Nährboden für die heimatlichen Dschihadisten in Grossbritannien verantwortlich gehalten. Jetzt mussten sie beantworten, warum solche Terroristen auch im assimilierenden Frankreich einen Nährboden gefunden hatten.
Es wird oft behauptet, dass es rund fünf Millionen Muslime in Frankreich gibt, angeblich die grösste muslimische Gemeinde in Westeuropa. In der Tat waren jene Nordafrikaner in Frankreich, die in diese Gruppe geworfen werden, noch nie eine einzige Gemeinschaft, und noch weniger eine religiöse. Einwanderer aus Nordafrika waren im Grossen und Ganzen weltlich und oft sogar religionsfeindlich gewesen. Ein Bericht des Pew Research Center 2006 ergab, dass 42 Prozent der Muslime in Frankreich sich primär als französische Bürger identifizierten, mehr als in Deutschland, Spanien oder Grossbritannien. Immer mehr haben sich in den letzten Jahren zum Islam hingezogen gefühlt. Aber auch heute, nach einer Studie von Ifop von 2011, bezeichnen sich nur 40 Prozent als gläubige Muslime, und nur 25 Prozent besuchen das Freitagsgebet.
Diejenigen nordafrikanischer Herkunft in Frankreich werden auch oft als Einwanderer beschrieben. In der Tat, die meisten sind französische Bürger der zweiten Generation, in Frankreich geboren und so Französisch wie jeder Wähler des Front National. Die Verwendung der Begriffe „Muslim“ und „Migrationshintergrund“ als Bezeichnung für französische Bürger nordafrikanischer Herkunft ist jedoch nicht zufällig. Es ist Teil des Prozesses, durch den der Staat diese Bürger zu anderen macht – als nicht wirklich Teil der französischen Nation.
Wie in Grossbritannien war in Frankreich die erste Generation der Nachkriegsimmigranten konfrontiert mit erheblichem Rassismus, und die zweite Generation war weit weniger bereit, soziale Diskriminierung, Arbeitslosigkeit und Polizeibrutalität zu akzeptieren. Sie organisierten sich, grösstenteils durch säkulare Organisationen, und gingen auf die Strasse, oft unter heftigem Protest. Die Unruhen, die durch französisch Städte fegten im Herbst 2005, zeigte die Brüche in der französischen Gesellschaft so klar wie diejenigen, die die britischen Städten zwei Jahrzehnte zuvor verschlungen hatten.
Während der 1970er und frühen 1980er Jahren, nahmen die französischen Behörden eine relativ entspannte Haltung zum Multikulturalismus ein, in der Regel tolerierten sie kulturelle und religiöse Unterschiede zu einer Zeit, als nur wenige Minderheiten ihre Identität in kulturellen oder religiösen Bezug zum Ausdruck brachten. Der französische Präsident François Mitterrand prägte sogar den Slogan le droit à la différence (das Recht auf Unterschiedlichkeit). Als die Spannungen in den nordafrikanischen Gemeinschaften offenbarer wurden und der Front National als politische Kraft entstand, verliess Paris diesen Ansatz für eine härtere Linie. Die Unruhen im Jahr 2005 und die Unzufriedenheit, die da zum Ausdruck gebracht wurde, ist weniger als Reaktion auf den Rassismus präsentiert worden, als als Ausdruck des Islam als wachsende Bedrohung für Frankreich. Grundsätzlich lehnten die französischen Behörden den multikulturellen Ansatz Grossbritanniens ab. In der Praxis jedoch haben sie die nordafrikanischen Einwanderer und ihre Nachkommen auf „multikulturellen“ Weg behandelt – als eine einzige Gemeinde, vor allem einer muslimischen. Die Besorgnis über den Islam reflektierte grössere Sorgen um die Krise der Werte und der Identität, die jetzt Frankreich bedrängen.
Eine viel diskutierte Umfrage der französischen Forschergruppe Ipsos und dem Centre de Recherches Politiques oder CEVIPOF, durchgeführt 2013 am Institut d’Etudes Politiques de Paris (bekannt als Sciences Po) hat festgestellt, dass 50 Prozent der Bevölkerung Französisch glaubten, dass der wirtschaftliche und kulturelle „Niedergang“ ihres Landes „unvermeidlich“ sei. Weniger als ein Drittel meinte, die französische Demokratie funktioniere gut, und 62 Prozent fanden „die meisten“ Politiker „korrupt“. Der Bericht der Meinungsforscher beschreibt ein gebrochenes Frankreich, an Stammeslinien entlang geteilt, entfremdet von Alltagspolitik, misstrauisch gegenüber Staats- und Regierungschefs, und verärgert über Muslime. Die Hauptstimmung, die die französische Gesellschaft treibt, so der Bericht zum Schluss, war „Angst“.
In Grossbritannien war die multikulturelle Politik gleichzeitig die Anerkennung einer zerbrochenen Gesellschaft als auch die Ursache davon. In Frankreich hatte die Assimilationspolitik paradoxerweise hatte das gleiche Ergebnis. Konfrontiert mit einer misstrauischen und unengagierten Öffentlichkeit, hat die Politik versucht, eine gemeinsame französische Identität durchzusetzen. Jedoch, da sie nicht in der Lage war, die Ideen und Werten, die das Land prägen, klar zu definieren, haben sie dies in erster Linie durch die Aussaat von Feindseligkeit gegenüber Symbolen der Fremdheit gemacht – durch das Verbot der Burka 2010 zum Beispiel.
Statt die Nordafrikaner als vollwertige Bürger zu akzeptieren, neigte die französische Politik dazu, den Rassismus und die Diskriminierung, womit sie konfrontiert war, zu ignorieren. Viele in Frankreich sehen die Bürger nordafrikanischer Herkunft nicht als Franzosen, sondern als Araber oder Muslime. Doch Nordafrikaner der zweiten Generation sind oft noch mehr entfremdet von der Kultur und den Sitten ihrer Eltern – vom Mainstream-Islam – wie vom Rest der französischen Gesellschaft. Sie sind nicht zwischen zwei Kulturen gefangen, wie oft gesagt wird, sondern ohne eine. In der Folge haben sich einige von ihnen dem Islamismus zugewandt, und einige haben ihre innere Wut durch Dschihad Gewalt zum Ausdruck gebracht.
Gleichzeitig hat die französische Assimilationspolitik das Gefühl der Loslösung verschärft, das die traditionellen Arbeitergemeinden fühlten. Der Sozialegeograph Christophe Guilluy hat den Ausdruck „das periphere Frankreich“ geprägt, um jene Menschen zu beschreiben, die „durch die Deindustrialisierung und Gentrifizierung aus den urbanen Zentren ausgestossen,“ deswegen „entfernt von den Wirtschafts- und Entscheidungszentren leben in einem Zustand der sozialen nicht-Integration,“ und die sich deshalb „ausgeschlossen fühlen“. Das periphere Frankreich ist vor allem als Folge der wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen entstanden. Aber wie viele Teile der nordafrikanischen Gemeinschaften des Landes, haben sie ihre Marginalisierung durch die Linse der kulturellen und ethnischen Identität wahrgenommen. Laut der Ipsos-Umfrage CEVIPOF von 2013 dachten sieben von zehn Leute, es gebe „zu viele Ausländer in Frankreich,“ und 74 Prozent fanden den Islam als mit der französischen Gesellschaft unvereinbar. Den Islam als Bedrohung französischer Werte darzustellen hat nicht nur die politische Rolle der Kultur gestärkt, sondern auch die populäre Enttäuschung über die Mainstream-Politik verschärft.
In der Vergangenheit hätte die Unzufriedenheit, ob in den nordafrikanischen oder weissen Arbeiterklassengesellschaften, zu sofortigen politischen Handlungen geführt. Heute jedoch drücken beide Gruppen ihre Beschwerden durch Identitätspolitik aus. Auf ihre eigene Weise sind rassistischer Populismus und radikaler Islamismus jeweils Ausdruck des sozialen Rückzugs in einer Zeit der Identitätspolitik.
Ein anderer Weg
Multikulturalismus und Assimilation sind verschiedene politische Reaktionen auf dasselbe Problem: die Spaltung der Gesellschaft. Und doch hatten beide die Wirkung, dass alles noch schlimmer wurde. Es ist daher Zeit, über die zunehmend sterile Debatte zwischen den beiden Ansätzen hinauszuschauen. Und das erfordert drei Arten von Unterscheidungen.
Zunächst sollte Europa die Vielfalt als gelebte Erfahrung trennen vom Multikulturalismus als politischen Prozess. Die Erfahrung des Lebens in einer Gesellschaft, die durch Masseneinwanderung vielfältig geworden ist, sollte begrüsst werden. Versuchen, eine solche Vielfalt zu institutionalisieren durch die formelle Anerkennung der kulturellen Unterschiede sollte widerstanden werden.
Zweitens sollte Europa Farbenblindheit unterscheiden von Rassismusblindheit. Die Entschlossenheit der Vertreter der Assimilation, alle gleich zu behandeln, als Bürger und nicht als Träger von bestimmter Rasse- oder Kulturgeschichte, ist wertvoll. Aber das bedeutet nicht, dass der Staat Diskriminierung bestimmter Gruppen ignorieren soll. Bürgerschaft bedeutet nichts, wenn verschiedene Klassen von Bürgern unterschiedlich behandelt werden, egal ob aufgrund der multikulturellen Politik oder wegen Rassismus.
Schliesslich sollte Europa unterscheiden zwischen Völkern und Werten. Multikulturalisten behaupten, dass gesellschaftliche Vielfalt die Möglichkeit gemeinsamer Werte untergräbt. Ebenso deuten Assimilationisten an, dass solche Werte nur in einer kulturell – und, für einige, ethnisch – homogenen Gesellschaft möglich sind. Beide betrachten Minderheiten als homogene Löcher, verbunden mit einem bestimmten Satz von kulturellen Merkmalen, Religionen, Überzeugungen und Werten, und nicht als Bestandteil einer modernen Demokratie.
Die eigentliche Debatte sollte nicht zwischen Multikulturalismus und Assimilation stattfinden, sondern zwischen zwei Formen des ersteren und zwei Formen des letzteren. Eine ideale Politik würde die Umarmung des Multikulturalismus der tatsächlichen Vielfalt, statt seine Tendenz, Unterschiede zu institutionalisieren, mit der Entschlossenheit des Assimilationismus, alle als Bürger zu behandeln, statt seiner Tendenz, eine nationale Identität durch die Charakterisierung bestimmter Gruppen als Fremdkörper der Nation aufzubauen, verheiraten. In der Praxis haben die europäischen Länder das Gegenteil getan. Sie haben entweder multikulturelle Politik verabschiedet, die Gemeinschaften in enge Boxen einpfercht, oder assimilierende Politik, die Minderheiten aus der Mehrheit entfernt.
In Zukunft muss Europa ein progressives Gefühl der universellen Werte wiederentdecken, etwas, das die Linken des Kontinents weitgehend aufgegeben haben, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Auf der einen Seite gibt es eine Gruppe von Linken, die Relativismus und Multikulturalismus verbunden haben, mit dem Argument, dass die schiere Idee universeller Werte in gewisser Weise rassistisch sei. Auf der anderen Seite gibt es diejenigen, beispielhaft verkörpert durch französische Assimilationisten wie der Philosoph Bernard-Henri Lévy, die auf der Wahrung der traditionellen Werte der Aufklärung bestehen, die das aber in einer Art Stammes-Modus tun, was einen Kampf der Kulturen voraussetzt.
Es gab auch eine Grundannahme in ganz Europa, dass Zuwanderung und Integration durch staatliche Massnahmen und Institutionen verwaltet werden müssen. Doch wirkliche Integration, ob der Zuwanderer oder indigener Gruppen, geschieht selten durch Handlungen des Staates; sie wird in erster Linie von der Zivilgesellschaft geformt, von den individuellen Bindungen, die Menschen miteinander bilden, und durch die Organisationen, die sie schaffen, um ihre gemeinsamen politischen und sozialen Interessen zu fördern. Es ist die Erosion solcher Bindungen und Institutionen, die sich als problematisch erwiesen hat – die das Versagen der Assimilationspolitik verbindet mit jenem der Multikulturalen Politik, und die erklärt, warum sozialer Rückzug nicht nur eine Funktion der Einwanderergruppen ist, sondern auch von der Gesellschaft als Ganzes. Um den Schaden, den der Rückzug angerichtet hat, zu reparieren und um einen voranschreitenden Universalismus wiederzubeleben, braucht Europa nicht so sehr neue Staatspolitik als eine Erneuerung der Zivilgesellschaft.