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Israel: Eine unerwartete Überraschung

Haisam Hassanein, 16.8.2015, JPost.com

Blick auf den Strand von Tel Aviv (photo credit: MARC ISRAEL SELLEM/THE JERUSALEM POST)

Guten Abend. Es ist mir eine Freude, an diesem Abend, der das Ende eines Kapitels in unserem Leben und den Beginn eines anderen darstellt, zu Ihnen zu sprechen. Ich möchte Sie einladen, sich alle einen Moment Zeit zu nehmen, um über den Beginn Ihres Abenteuers in Israel nachzudenken. Erinnerst Du dich daran, wie du Deine Anmeldebestätigung erhalten hast? Wahrscheinlich warst Du ganz aufgeregt, nach Israel zu kommen.

Dann begannst Du, den Leuten zu erzählen, dass Du nach Israel gehst, und vielleicht bist Du etwas nervös geworden.

Jeder in diesem Saal hat einen Freund oder ein Familienmitglied, der ihn davor warnte, nach Israel zu gehen.

Es ist Krieg dort! Hast Du keine Angst davor, in die Luft gesprengt zu werden? Haben sie überhaupt Wasser da? Sprechen Juden englisch? Wenn Sie denken, dass Sie eine Million Gründe gehört haben, warum man nicht nach Israel gehen sollte, so habe ich eine Million und eine Halbe gehört. Aufgewachsen in Ägypten, hatte mein ganzes Land Meinungen über Israel, und keine davon war positiv. Alles, was wir wussten, war, dass wir blutige Kriege gekämpft hatten, und dass sie nicht waren wie wir.

Mein Erfahrungen mit Israel machte ich durch Musik und Fernsehen. Im Radio gab es Hymnen über die Zerstörung, die Israel verursacht hatte. In den Filmen waren Israelis Spione und Diebe, und trotz der Tatsache, dass unsere Länder im Jahre 1979 ein berühmtes Friedensabkommen geschlossen hatten, wurde mir gesagt, dass die Israels unsere schlimmsten Feinde waren.

Ein kürzlich herausgekommener ägyptischer Actionfilm namens Cousins, ein Kassenschlager, erzählte die Geschichte eines israelischen Spions, der eine ägyptische Frau heiratet und mit ihr eine Familie hatte, nur um sie und ihre Kinder nach Israel zu entführen. Als ich meiner Mutter sagte, dass ich in Israel studieren werde, war sie verständlicherweise verängstigt, dass ich eine Freundin bekommen könnte.

Ich kam nach Israel mit nur dem Wissen, das ich mir in Filmen und in den Medien angeeignet hatte. Also meinte ich auf dem Flughafen, als der Sicherheitsbeamte mich fragte, warum ich beschlossen habe, hierher zu kommen, halb scherzend: „Ich habe immer gehört, die Juden seien schlechte Menschen, und ich bin gekommen, um mir das selber anzusehen.“

Ich hatte erwartet, dass die Leute hier unfreundlich waren und besonders unglücklich darüber, Ägypter anzutreffen. Ich war angenehm überrascht, das genaue Gegenteil festzustellen. Ich wurde überallhin eingeladen, vom Schabbat-Abendessen, an Ramadan zu Iftar-Mahlzeiten, an Theaterstücke und sogar zu politischen Versammlungen. Und die Vielfalt ich hier war so überraschend wie die Wärme der Menschen.

An meinem allerersten Tag hier an der Universität, sah ich Männer in Kippa und Frauen in Kopftüchern und Hijabs. Ich sah Soldaten friedlich zu Fuss unterwegs unter Massen von lebhaften Studenten. Ich habe gelernt, dass es Leute jeglicher Art gibt auf dem Campus, und dass die Universität einen Platz für alle hatte – Juden, Muslime, Christen, Drusen, Beduinen und sogar internationale Studenten.

Ich entdeckte, dass die Vielfalt des Campus der Universität von Tel Aviv sich auch in der Stadt Tel Aviv wiederspiegelte.

Wie faszinierend es doch ist, in einem Land zu sein, wo man an einen Strand gehen kann und eine muslimische Frau, ein küssendes homosexuelles Paar und eine Hassid auf dem selben kleinen Raum vorfindet? Wo sonst kann man einen christlichen Araber antreffen, dessen Wohnung mit Postern von Mao und Lenin verziert ist? Wo sonst kann man einen beduinischen IDF-Soldaten während des Ramadans im Zug den Koran lesen sehen? Wo sonst kann man sehen, wie Ashkenazi- und Mizrachi-Juden darüber streiten, ob Ashkenazi-Familien in den 1950er Jahren jemenitische Babys entführt haben? Ganz klar ist meine Erfahrung hier durch das Unerwartete definiert.

Auf Reisen aus Tel Aviv hinaus kann man nicht umhin, die Nähe der Kibbuzim zu arabischen Dörfern zu bemerken und die leichte Beziehung, die sie anscheinend miteinander teilen.

Vielleicht die grösste Offenbarung meines Hierseins war, dass trotz all der widersprüchlichen Geschichte und Identität die Menschen immer noch in der Lage sind, ihr tägliches Leben im Geiste der Zusammenarbeit zu leben.

Ein besonderes Beispiel sticht für mich heraus, wenn ich an dieses Paradox denke, das sich im Alltag in Israel dauernd abspielt. In meiner ersten Woche hier hatte ich ein Gespräch mit einer netten arabisch-israelischen Studentin, wobei sie mich darüber belehrte, wie wichtig es ist, dass die arabischen Nationen Israel boykottieren. Als unser Gespräch zu Ende ging, gesellte sich ein jüdischer Junge zu uns, etwa acht Jahre alt, ganz aufgeregt, sie zu sehen. Es stellte sich heraus, dass sie seine Lehrerin war. Sie gab ihm eine grosse Umarmung und einen Kuss auf die Wange – ihre Zuneigung sah aus wie ein Austausch zwischen Bruder und Schwester.

Ich konnte sehen, wie sehr sie den Jungen wirklich liebte, und wie der Junge sie ebenfalls liebte. Egal, wie tief verwurzelt die Konflikte sind, die menschliche Seite herrscht immer vor.

Ich denke oft an die Fremdheit bei der Ankunft in diesem Land, wo die Menschen, die man mich als Feinde wahrzunehmen gelehrt hatte, zu meinen Lehrern, Klassenkameraden, Lieferanten, Ärzte und Beraterinnen verwandelt wurden. Wenn Israelis mich fragen, wie es sich für mich anfühlt, in diesem Land zu sein, dann muss ich ehrlich sein. Ich sage ihnen, bevor ich euch kannte, mochte ich euch nicht. Aber ich habe nie in Betracht gezogen, dass meine „Feinde“ mich in ihrer Schule, in ihrem Land akzeptieren und darüber hinaus mich in ihre Gesellschaft aufnehmen würden.

Interessant ist, dass am Ende meiner Erfahrung eine der grössten Überraschungen nicht aus Israel kam, sondern aus Ägypten.

Jedes Jahr während des Ramadans gibt es eine besondere Reihe von Seifenopern, die Familien in der ganzen arabischen Welt zusammen nach dem Fastenbrechen anschauen. Die diesjährige Seifenoper hiess Haret el-Yahoud, „Das jüdische Viertel“, und es erzählte die Geschichte der ägyptischen Juden im Zuge der Gründung Israels.

Die Serie beschäftigt sich mit Fragen der Identität und Politik, und verfügt über eine Besetzung von jüdischen und muslimischen Schauspielern, und es gibt sogar eine interreligiöse Liebesbeziehung.

Als Student der Geschichte kann ich nicht sagen, dass die Serie perfekt war, aber die Juden wurden zum ersten Mal als Menschen dargestellt, als Menschen mit einer Liebe zu Familie und Land, statt Todfeinde, ist nichts weniger als aussergewöhnlich. Und während Ägypten einen weiten Weg zu gehen hat vor der Akzeptanz Israels als Freund, so inspiriert diese Serie vielleicht mehr Ägypter, zumindest bereit zu sein, über „den Feind“ nachzudenken.

Nach einem Jahr unzähliger Überraschungen wurde mir klar, dass da eine Lektion in all dem drin steckt, eine, von der ich denke, dass wir sie alle gebrauchen können. Ausserdem denke ich, ist es etwas, was wir Master-Studierende, die die Dinge genauer zu verstehen anstreben, eindeutig verstehen: wir müssen immer unsere Annahmen hinterfragen. Hier in Israel zu sein hat mich gelehrt, dass das Leben voller Paradoxien und Komplexitäten ist – dass nichts einfach ist, und dass die Dinge oft nicht so sind, wie sie erscheinen mögen. Egal, wie viel Bildung und Lebenserfahrung wir erwerben, wir müssen immer tiefer graben.

Erinnern wir also heute, während wir das Ende eines grossen Jahres feiern, auch daran, mit einem Gefühl der erneuerten Neugier vorwärts zu gehen, wissend, dass das einzige, was man wirklich im Leben erwarten sollte, ist, dass das Leben unseren Erwartungen trotzt.

Besten Dank.

Der Autor ist ein ägyptisch-amerikanischer Student in Israel. Der Kommentar basiert auf einer Rede, die er an der Tel Aviv Universität gehalten hat.

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