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Die Progressive Linke und Israels Existenzrecht

Charles Lipson, 1.10.2015, RealClearPolitics.com

Ein kleiner Zwischenfall während Bernie Sanders‘ letztem Vortrag an der Universität von Chicago zeigt, wie sich die progressive Linke gegen Israel gewandt hat. Der Veranstaltungsort war der grösste auf dem Campus, und er war voller begeisterter Anhänger. Als Fragen gestellt werden konnten, sagte ein Student, dass er und seine Freunde die progressive Politik Bernies mochten, aber nicht ganz seine Ansichten über den Nahen Osten. Bernies Antwort, und die Reaktion des Publikums, lohnt, darüber nachzudenken.

Zunächst sagte Bernie, Israel habe ein Recht zu existieren. Das sollte für einen Applaus gut sein, aber es fiel flach. Es gab nur ein paar wenige Klatscher. Das änderte sich, als er sagte, dass er sehr für einen palästinensischen Staat sei. Da war der Applaus laut und anhaltend.

Es ist nur ein kleiner Zwischenfall, aber er fängt eine Bewegung ein, die sich seit Jahren an Elite-Universitäten entwickelt hat und sich nun ausbreitet und Kultur- und Medieneinrichtungen erfasst. Ihre Ansichten werden sicherlich von Präsident Obamas Misstrauen gegenüber dem jüdischen Staat gefördert. Aber er ist weniger ein Anführer, als eine genaue Wetteranzeige . Die Linke liebt Israel etwa so sehr, wie sie Fracking, die Keystone-Pipeline, Goldman Sachs, Wähler-IDs, Clarence Thomas und die Hirschjagd liebt.


Was auf dem Campus geschehen ist, abgesehen von der gut dokumentierten Unterdrückung von Pro-Israel-Ansichten, ist die Bildung einer dauerhaften Koalition nicht nur gegen Benjamin Netanjahu und insbesondere die israelische Politik, sondern gegen Israel selbst. Die Koalition besteht aus den beiden Basisgruppen auf allen Elite-Universitäten: die selbsternannten „Opfer“ und die selbst-flagelierenden „Schuldigen“. Eines der Hauptziele der Orientierungswoche ist es, Studierende in eine dieser beiden Gruppen einzusortieren und sie in ihren zugewiesenen Rollen auszubilden.

Die Schuldigen sind alle Studierenden mit gutem Hintergrund, mit Ausnahme jener aus den akzeptierten Minderheiten. Diese Mittelklasse-Schüler sind per Definition „Unterdrücker“. Sie können ihre Sünden sühnen, indem sie sich schuldig sprechen und zeigen, dass sie bereit sind, das Durcheinander, das ihre Familien in Amerika und der Welt angerichtet haben, zu beheben. Ihre eigene spezielle Bewegung ist Umweltschutz und „Sicherheit“ auf dem Campus, was über das legitime Ziel der Gewährleistung der physischen Sicherheit aller Schülerinnen und Schüler hinausgeht und zusätzlich Ansichten, sie nicht mögen, unterdrückt. Diese Ansichten, sagen sie, bringen sie dazu, „sich unsicher zu fühlen.“ Dekane von Studenten, die sich keinen Deut um Redefreiheit kümmern, rauschen gerne eilig herbei, um sie zu schützen. Aber der wichtigste Weg, wie sich Mittelklasse-Studenten von ihren Sünden reinwaschen können, ist, die Bewegung-des-Tages der „Opfergruppen“ zu unterstützen.

Es gibt keinen Mangel an Gelegenheiten. Es gibt alle Arten von selbsternannten Opfer auf dem Campus, die jeweils wetteifern um die begehrte Position als „am furchtbarsten durch Amerika unterdrückt.“ Unter den ausländischen Studierenden sind die unangefochtenen Sieger die Palästinenser (und muslimische Studenten generell). Sie freuen sich über die Unterstützung anderer, solange niemand ihren Status als internationale Opfergruppe Nummer 1 bestreitet. Ihre politische Haupttätigkeit ist, an allen öffentlichen Veranstaltungen für Israel aufzutauchen, zu protestieren, und, falls die Universität nichts unternimmt, sie vollständig zu unterbrechen oder sogar abzubrechen.

Diese Anti-Israel-Koalition hat einige beeindruckende Siege vorzuweisen, vor allem weil ihre Ansichten von Dozenten in den Geistes- und Sozialwissenschaften geteilt werden. (Wirtschaft ist die Ausnahme.) Sie haben nun vollständig Pro-Israel-Stimmen aus praktisch jedem Themenbereich, der den Nahen Osten berührt, ausgeschlossen. Dies geht über Middle East Zentren, die sie vollständig kontrollieren, hinaus. Es bedeutet auch, dass es kaum Pro-Israel-Spezialisten gibt in Politikwissenschaften oder Geschichte. Es bedeutet, dass Junior-Dozenten, die ihr Amt halten wollen, ihre Pro-Israel-Ansichten gut verstecken. (Glauben Sie mir, sie tun es.) Der Zionismus ist ein verhasstes Wort in Bereichen wie Gender Studies, in denen jedes einzelne Mitglied der Fakultät an Brandeis Einspruch erhob gegen die Entscheidung der Universität, Ayaan Hirsi Ali, die weltweit prominenteste Gegnerin der Genitalverstümmelung bei Frauen, zu ehren. Sie hatte einige kritische Dinge über Muslime gesagt. Schlechter Stil. Brandeis kapitulierte sofort.

Im Grunde ist die gutdenkende Ansicht, dass (a) Israel ist falsch, weil es stark ist; (b) Israel hat kein Recht zu existieren, weil es ein europäischer Staat im muslimischen Nahen Osten ist; und (c) die Palästinenser und andere Muslime sind nicht für ihr Schicksal oder ihre Verbrechen verantwortlich, weil sie unterdrückte Opfer sind.

Die Linke hasst Israels militärische Stärke und seine Bereitschaft, sie einzusetzen, aus den gleichen Gründen, warum sie amerikanische Macht hasst. Als recht-denkende Kosmopoliten würden sie niemals solche Brutalität genehmigen. Obama fing diese Perspektive in einem Freud’schen Versprecher ein: „Ob es uns gefällt oder nicht“, erklärte er, „wir bleiben eine dominierende militärische Supermacht“. Die Linke mag das nicht. Sie mögen es nicht in Amerika, und sie mögen es in Israel nicht. Was die militärischen Bedrohungen in Russland, China, Iran oder Nordkorea betrifft, na ja, lassen Sie uns nicht darüber nachdenken. Die Bedrohungen können aus ihren Köpfen verschwinden, aber sie bedrohen immer noch alle anderen mit funktionierenden Synapsen.

Nicht nur ist Israel mächtig, die Linke (wie die muslimische Welt) sieht Israel als ein Überbleibsel der europäischen Verbrechen: Imperialismus und der Holocaust. Fakultäten sind in erster Linie mit Imperialismus und post-kolonialen Hinterlassenschaften beschäftigt, die sie für viele der Übel der Welt schuldig erachten. Sie sehen Israel durch diese Linse, als Kolonie der weissen Siedler in einer arabisch-muslimischen Region. Sie ignorieren ungeniert des jüdischen Volkes uralte Verbindung mit dem Land, seiner kontinuierlichen Präsenz dort, und seine zentrale religiöse Bedeutung. Und sie ignorieren, wie viele Israelis aus arabischen Ländern vertrieben wurden, die virulent antisemitisch geworden sind.

Die Kombination von Israels religiösem Erbe, seinem Nationalismus, seinem Wohlstand und seiner kompromisslosen Selbstverteidigung verbindet praktisch alles von weltlichen, weltoffenen Intellektuellen verabscheute. Das ist der Grund, warum Obama in seiner Rede in Kairo von 2009 nur eine laue „Verteidigung“ des Existenzrechts Israels war. Israel ist nötig, sagte er, weil Juden nach dem Holocaust einen Ort brauchten, wo sie hingehen konnten. Das ist die Ansicht des durchschnittlichen Professors für französische Literatur: Israel ist das uneheliche Kind von Europas Verbrechen.

Im Linken Weltbild sind Palästinenser und andere Muslime nicht die Handelnden in ihrer eigenen Geschichte, zum guten oder zum bösen. Sie sind rechtschaffene Opfer. Diese herablassenden Blick fusst auf Jean Jacques Rousseaus hauchzarter, romantischer Vision des „edlen Wilden“, der noch nicht von der Zivilisation verflucht ist. Was kann von solchen Leuten erwartet werden? Ihre Verbrechen sind lediglich „Waffen der Schwachen.“ Und wer sind wir, die Unterdrücker, sie zu kritisieren? Das wäre eine unverzeihliche Sünde, die Schuld auf das Opfer zu schieben.

Seit Jahren ist diese Koalition von Anti-Zionisten über den Campus marschiert mit den Rufen: „Palästina, Palästina, muss frei sein, vom Jordan bis zum Meer.“ Der Staat, den sie verlangen, vom Jordan bis zum Mittelmeer, bedeutet, dass Israel ganz verschwinden sollte. Deshalb, wenn Bernie Sanders sagt, dass Israel ein Existenzrecht hat, sitzen sie auf ihren Händen. Ihr schändliches Schweigen besagt, dass Israels blosse Existenz nicht mehr eine „progressive Position“ ist.

RCP Autor Charles Lipson ist der Peter B. Ritzma Professor für Politikwissenschaft und der Gründer und Direktor des Programms für Internationale Politik, Wirtschaft und Sicherheit an der Universität von Chicago. Er ist erreichbar unter charles.lipson@gmail.com.

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