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Wir dürfen keine Angst haben, über die Wurzeln des Konflikts zu reden

Shaul Judelman, 4.7.2016, Fathom Journal

Shaoul Yudelman, Youtube

Shaul Judelman ist ein jüdischer Israeli, der in der Gush-Etzion-Siedlung lebt und er ist der Koordinator von Roots – einer Basisbewegung für Verständnis, Gewaltlosigkeit und Transformation zwischen Israelis und Palästinensern, die Hass und Misstrauen verlagern will zu Vertrauen, Empathie und gegenseitiger Unterstützung. Er saß mit dem stellvertretenden Redakteur Calev Ben-Dor zusammen, um über seinen Weg zum gewaltlosen Friedensaktivismus und seine Gedanken über die politische Zukunft zu sprechen. Sehen Sie das Interview in dieser Ausgabe von Fathom mit Ali Abu-Awwad, Judelmans palästinensischem Partner.

Calev Ben-Dor: Welche Ereignisse haben dich und deine Einstellung geformt?

Shaul Judelman: Meine Familie ist in die USA ausgewandert, als ich zwei war. Wir waren nicht religiös, aber ich fühlte immer eine tiefe Bindung zum jüdischen Volk und ich erinnere mich, dass ich mich an Demonstrationen beteiligte, um das sowjetische Judentum zu befreien und äthiopische Juden nach Israel zu bringen. Als kleines Kind dachte ich oft darüber nach, woher wir kommen, und auf einer tiefen Ebene wusste ich, dass das Land Israel unser Zuhause war; Dass es ein Ort war, wo ich, wenn ich jemals ganz am Boden sein würde, herkommen könnte und wo sie mich aufnehmen würden. Im Jahr 2000 kam ich nach Israel, um ein Judentum zu erleben, das mit der Tradition und dem Land verbunden war. Aber es war auch der Anfang der zweiten Intifada, und Gewalt brach aus nur ein paar Monate nach meiner Ankunft.

Es war eine sehr intensive Zeit. Es gab Bus-Bombenanschläge und Selbstmordattentate und Schießereien. Ich habe einen Cousin und einen Freund verloren bei palästinensischen Messerangriffen. Ich war mit Hoffnung in die Oslo-Abkommen gekommen – und dann wurde diese Hoffnung umgeworfen. Die Menschen stellen die Frage in den Raum, ob die Gewalt „Terrorismus“ oder „Freiheitskampf“ war. Während ich es als Terrorismus sah, konnte ich verstehen, dass die andere Seite es logischerweise als Freiheitskampf betrachtete. Aber im Jahr 2007 gab es in meiner Gemeinde einen Angriff auf einen Jungen, bei dem er von einer Axt in den Hinterkopf getötet wurde, und danach verschob sich meine Politik ziemlich weit nach rechts. Ich konnte nicht nachvollziehen, wie Israel mit Menschen, die einem solchen Angriff applaudierten, Frieden schließen sollte.

Es ist schon richtig, das ist ein politischer Konflikt. Aber was den Konflikt am Leben erhält und ihn unlösbar macht, sind menschliche Gefühle wie Wut und Angst. Wir sind ein emotionales Volk und Gewalt ist eine emotional sehr stimulierende Sache. Es gibt hier niemanden, der nicht jemanden verloren hat oder der die Angst nicht in seinem Fleisch gefühlt hat – ob es Angst vor der Israelischen Armee (IDF) ist, die in deiner Stadt eine Verhaftung durchführt oder Angst vor jemandem, der während der Fahrt Steine auf dein Auto wirft. Angst und Wut bringen uns an irrationale Orte und macht uns defensiv, unseres Selbsts und unserer Positionen zu sicher.

Ein weiteres Element in diesem Konflikt ist Verzweiflung. 80 Prozent der Israelis unterstützen theoretisch die Zwei-Staaten-Lösung, aber die gleiche Zahl glaubt nicht, dass sie sie während ihrer Lebenszeit sehen werden. Und diese Verzweiflung gilt auch für diejenigen wie mich, die das Recht der Palästinenser auf einen Staat anerkennen können (Wir können darüber debattieren, ob die Palästinenser vor tausend Jahren existierten, aber jetzt ist das die Realität). Selbst die Verfechter palästinensischer Rechte haben Angst, einen auf dem erhöhten Territorium zu schaffen [d.h. in der Westbank] unter den Umständen dessen, was in der Region los ist. Was wäre, wenn die Hamas dort an die Macht kommen würde? Werden wir die Siedlungen evakuieren, ohne dass wir dafür Sicherheit bekommen?

Also vertraue ich nicht und ich habe tiefe Ängste. Und mit dieser Angst kommen Hass und Vorurteile. Leider ist eine der Früchte des Oslo-Abkommens, dass zwei Generationen (beider Seiten) keine Erfahrungen mit der anderen haben, ausser als Soldat / Siedler / Terrorist / Mörder. Und beide Seiten sind sicher, dass es keinen Partner für den Frieden gibt.

CBD: Sowohl Du als auch Ali Abu haben den Zorn erwähnt, den Ihr hattet. Dennoch seid Ihr heute in Gewaltlosigkeit und im Dialog engagiert. Was hat dich letztlich zu Roots gebracht?

SJ: Im Jahr 2007 war ich wütend und ängstlich. Ich fühlte, dass unsere einzige Chance, hier zu überleben, ist, stark zu sein. Die Herausforderung, die mich letztlich dazu veranlasste, hier zu sitzen, wurde mir zuerst von meinem Rabbi, Menachem Froman, einem Siedler-Rabbi aus Tekoa (in Gush Etzion) vorgestellt. Jassir Arafat hat ihm einmal die Position des Ministers für jüdische Angelegenheiten in Palästina angeboten! Er traf auch mit Scheich Yassin der Hamas zusammen, der ihm sagte: „In Oslo sind deine Ketzer und meine Ketzer zusammengekommen und haben ein Stück Papier unterzeichnet. Aber du und ich können in fünf Minuten Frieden schließen.“ Ich wurde auch von meinem Judentum beeinflusst. Eine Zeile aus dem Talmud – „Wer auch immer verärgert wird, ist, als hätten sie ein Idol verehrt“ – hat mich besonders hart getroffen

Rabbi Froman fühlte tief, was Judäa und Samaria bedeuteten. 90 Prozent der jüdischen Stätten in der Bibel sind hier. Oslo hat das nicht nur nicht erkannt, sondern sie sogar verschenkt. Rabbi Froman erzählte Tony Blair einmal, dass Religion kein Staub ist, der unter dem Teppich gefegt werden kann, sondern ein Tiger, der aufspringt und dich beißt, wenn man sich nicht um ihn kümmert. Und Oslo hat sich nicht um sie gekümmert – Oslo hat sich weder um palästinensische Flüchtlinge noch um jüdische historische Ansprüche auf dieses Gebiet gekümmert.

Ehrlich gesagt, als jüdischer Israeli, hat die Karte Israels keinen grossen Streifen mitten hindurch (die grüne Linie). Und für die Palästinenser ist es dasselbe. Wir müssen einen Schritt von der Politik zurücktreten und sehen, wo die Köpfe der Menschen sind. Acre und Jaffa sind in der Erfahrung der Leute nicht weniger Palästina als Ramallah und Hebron. Flüchtlinge besitzen immer noch die Schlüssel zu ihren Häusern von 1948. Und Sichem (Nablus) und Hebron sind ein tiefer Teil von uns. Also stehen wir hier mit zwei Narrativen, die nicht zusammenpassen.

Als er Mitte der 1970er Jahre in die Westbank übersiedelte, sagte Rabbi Froman etwas sehr kraftvolles – dass die Erlösungsgeschichte unseres Volkes nicht zur Exilgeschichte eines anderen Volkes werden kann. Und er sah, dass eine der Kernfragen sich um Religion dreht. Kann der Islam hier wirklich Platz für eine jüdische souveräne Einheit schaffen? Können religiöse Juden wirklich einen palästinensischen Staat in Judäa und Samaria zulassen? Anstatt sich vor diesen Problemen zu verstecken, ist es wichtig, dass wir sie auf den Tisch legen. Schauen wir uns die Wurzeln des Konflikts an und haben wir keine Angst vor ihnen, nur weil sie unangenehm sind.

Dadurch, dass ich Rabbi Froman ausgesetzt war, versuchte ich, meinen wachsenden Zorn zu kanalisieren, und ich fand mich in Basisaktivismus involviert. Es liegt eine gewisse Einfachheit darin, ein lokales Projekt zu starten. Ich arbeite mit Einheimischen, die am Ende des Tages direkt nebeneinander leben müssen. Soweit wir wissen, ist Roots das einzige gemeinsame israelisch-palästinensische Projekt, das im Westjordanland stattfindet. Gemäss den meisten Analysen sind Palästinenser und israelische Siedler die letzten Menschen, die miteinander reden sollten. Aber wir stellen einige der Gegebenheiten auf beiden Seiten in Frage. Viele Politiker sagen, es ergibt keinen Sinn, mit Menschen auf der anderen Seite zu reden. Vielleicht bedroht sie das, was wir tun,

Nicht alles ist sauber wie ein Pfirsich. Mein Freund Ali sagt oft, dass Dialog nicht der Ort ist, übereinzustimmen, sondern ein sicherer Ort, verschiedener Meinung zu sein. Wir tun das jetzt seit zweieinhalb Jahren, und wir lassen uns vom Prinzip der Gewaltlosigkeit leiten.

CDB: Was ist Euer Ziel bei Roots?

SJ: Wir versuchen, gemäßigten Stimmen mehr Gehör zu verschaffen. Das Problem sind nicht die Extremisten, sondern die 80 Prozent plus, die das Leben leise leben wollen, die aber keine Möglichkeit haben, dies auszudrücken. Wenn Gewalt geschieht, wollen sie keine Feiglinge sein, aber sie haben keine Möglichkeit, ihre Gefühle an einem positiven Ort auszudrücken, und so lassen sie oft zu, dass Angst und Wut entscheiden, was möglich ist. Aber auch in den Siedlungen, wenn wir Ali als Redner bringen, kommen 40-50 Leute, um ihn zu hören. Nach einem hitzigen Gespräch werden immer noch 20 von ihnen unterschreiben und bei Roots mitmachen. Die Leute sind keine Fanatiker. Sie wissen nur nicht, dass sie einen Partner haben. Sie glauben nicht, dass es ein gemässigtes Lager gibt auf der anderen Seite.

Meine Arbeit bei Roots schaut, was es bedeutet, Solidarität zu zeigen. Für eine politische Lösung muss man Zuversicht und Vertrauen aufbauen und das Gefühl zerstreuen, dass die andere Seite darauf aus ist, uns zu kriegne. Man muss echte Arbeit erledigen und es gibt großes Potenzial durch zivilgesellschaftliche Initiativen. Unsere Politiker sind festgefahren. Wir brauchen jemanden, der sagt, dass es einen Partner für den Frieden gibt und wir müssen hingehen und mit ihnen sprechen.

Unsere Politiker sind den Emotionen unseres Volkes verpflichtet, von denen viele ein Nullsummenspiel leben, in dem die Unterstützung der palästinensischen Rechte ihre Rechte als Israelis bedrohen. Das meiste der israelisch-palästinensischen Debatte dreht sich darum, dass beide Seiten sagen, dass das Land ihnen gehört. Doch Rabbi Froman lehrte, dass anstelle des Landes Israel, das dem Volk Israel gehört, es das Volk Israels ist, das dem Land angehört. Es ist letztlich Gottes Land, nicht unseres. Wir besitzen es nicht, sondern wir gehören zu ihm. Und Zugehörigkeit statt Besitztum ist nicht exklusiv.

Eine zusätzliche Frage ist, wie Sicherheit zu erreichen ist. In der Vergangenheit war es immer mit geballten Fäusten, mit Checkpoints etc. Aber viele Leute im Sicherheitsestablishment erkennen, dass wir den Menschen Raum zum Atmen geben müssen. Aus diesem Grund wollte die Armee – trotz des öffentlichen Drucks – Arbeitsgenehmigungen für Palästinenser ausdehnen. Das ist eine Konversation, die wir bei Roots stark fördern.

Wir müssen die Leute wissen lassen, dass sie auf eine Weise sie selbst sein können, die nicht die andere Seite bedroht. Zum Beispiel ist es für viele religiöse Israelis sehr schwierig, das Wort „Besetzung“ zu hören. Nicht weil ich die Ungerechtigkeit an den Kontrollpunkten nicht sehe, sondern weil man, wenn man das Wort benutzt, andeutet, dass wir nicht von hier sind, dass wir „Kolonialisten“ sind, die Land stahlen, das nicht unser war. Es wird keinen Frieden geben, wenn die Palästinenser nicht sagen können, dass Israelis zu diesem Land gehören und Israelis das gleiche über die Palästinenser sagen können – und nicht nur im Westjordanland, sondern dass die Palästinenser in das ganze Land gehören. Das ist ihre Geschichte, woher sie sind, wie sie sich definieren. Und unsere Leute definieren sich ebenfalls vom Fluss bis zum Meer. Sobald wir beide das sagen, können wir vielleicht eine politische Ordnung ausarbeiten. Aber bis wir das ehrlich sagen können, lebe ich immer noch mit der existenziellen Bedrohung, dass, wenn sie gewinnen, ich verliere.

CBD: Welche Sorte politisches Modell schwebt Euch vor?

SJ: Das Mantra von zwei Staaten für zwei Nationen ist auf Trennung ausgerichtet. Die Idee ist, dass wir nicht miteinander auskommen können und dass gute Zäune gute Nachbarn machen. Doch ich bezweifle, dass es letztlich Frieden bringen wird, weil es kein Modell für Versöhnung ergibt. In der Tat schneidet es uns von der Versöhnung ab und führt nicht zu gemeinsamen Interessen. Viele von uns denken mehr an eine Konföderation, mit Kooperation bei gemeinsamen Investitionen und gemeinsamer Verwaltung von Gebieten.

CBD: Was denkst Du, was die ‚Hausaufgaben‘ deiner Gemeinschaft sind?

SJ: Weil der Konflikt so gewalttätig und traumatisierend ist, besteht ein Gefühl dafür, dass jede Glaubwürdigkeit, die dem Narrativ der anderen Seite gegeben wird, ihre Positionen rechtfertigt. Doch wir müssen einen besseren Job machen, aus unseren Schneckenhäusern herauszukommen. Uri Ariel [Knessetmitglied für Jewish Home] besuchte vor kurzem einen Checkpoint und kritisierte sie als schändlich und ich denke, für Palästinenser sind sie das auf täglicher Basis. Die Leute hier wissen das, aber sie glauben nicht, dass es an ihnen liegt, etwas zu tun. Wir sollten versuchen, das zu ändern.

Ein weiterer Teil betrifft Hass und Vorurteile, vor allem bei den Jugendlichen in unseren Gemeinden. Jemand könnte Steine oder Molotow-Cocktails auf palästinensische Autos werfen, doch 99 Prozent von uns sehen das als schrecklich an. Die Art und Weise, wie Kinder über Araber reden in Schulen oder Jugendbewegungen, ist problematisch und herausfordernd. Die Gewalt gegen die Araber wächst, und wir müssen erkennen, wo viele junge Menschen heute sind – dass sie ein sehr klares Gefühl haben, wer ihr Feind ist, doch niemand, der sie der Menschlichkeit der anderen aussetzt.

CBD: Was geschieht, wenn Ihr diese Ideen in eure Gemeinschaften bringt?

SJ: Kinder haben bei mir Zuhause Störanrufe gemacht, und einige Leute liefen aus der Synagoge, als ich Dienste leitete. Beachten Sie, dass die wichtigste Person, die raus ging, der Vater des Jungen war, der von der Axt getötet wurde. Wir sprachen ein paar Stunden später und es stellte sich heraus, dass er etwas in den Medien über meine Ansichten und Arbeit gesehen hatte, die ich ihm erklärte. Wir sehen die Dinge anders, aber es war nichts schlimmes.

Die meisten Leute, die unnachgiebig gegen das Projekt waren, mit mir noch im Gespräch sind. In Bat Ayin, der Siedlung, in der ich lebte, gab es eine Anzahl von Leuten, die an Roots-Veranstaltungen teilnahmen. Aber es gibt auch eine Gruppe junger Menschen, die sich – vor allem seit dem Abzug aus Gaza im Jahr 2005 – von der Armee und dem Staat im Stich gelassen fühlen, oder die das Gefühl haben, dass die IDF von den Linken kontrolliert wird. Das sind Jungs, die mit einer sehr starken Ideologie in einer äußerst parochialen Umgebung aufwachsen und davon überzeugt sind, dass 90 Prozent der Welt gegen sie sind und dass es an ihnen liegt, sich zu verteidigen. Es ist eine kleine Gruppe von jungen Leuten, aber es ist ein echtes Problem. Lange Zeit hatten viele Leute ihre Köpfe im Sand stecken. Ein Teil unserer Hausaufgaben ist, dafür zu sorgen, dass die religiöse zionistische Führung betont, dass diese Art von Dingen keinen Platz haben.

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