Seth J. Frantzman, 19.2.2019, Jerusalem Post
aus dem Englischen von Daniel Heiniger
Mahmoud Sheikh Ibrahim hat in seiner langjährigen Zusammenarbeit mit Journalisten, die über den Konflikt in Syrien und im Irak berichten, die schlimmsten ISIS-Verbrechen erlebt.
Schockiert über die zahlreichen Interviews westlicher Publikationen mit ISIS-Mitgliedern in Syrien und die Sympathie, die einige im Westen gewonnen haben, betont er, dass diese Menschen den Beitritt zu ISIS nicht bereuen.
Ibrahim ist einer von vielen im Irak und in Syrien, der seine Verwirrung über die plötzliche Aufmerksamkeit ausdrückt, die „ISIS-Bräute“ und andere ISIS-Mitglieder in den westlichen Medien erhalten.
Letzte Woche veröffentlichte The Times of London ein Interview mit Shemima Begum, einer Britin, die 2015 nach Syrien reiste, um sich ISIS anzuschließen und einen niederländischen Konvertierten heiratete. Nach ihrem ersten Interview ist sie zu einer Berühmtheit in den britischen Medien geworden, wobei Sky News und die BBC sich mit ihr in einem Vertriebenenlager in Syrien zusammensetzen.
Berichten zufolge gebar sie auch ein Kind zwischen ihrem ersten Interview und dem Gespräch mit Sky News am Sonntag. Sie sagte, „es war“ zunächst „schön“ bei ISIS. Hinrichtungen waren in Ordnung, „Islamisch war es erlaubt“, sagte sie. Sie ist eine von mehreren tausend Westlern, die jetzt in Syrien festgehalten werden unter dem Verdacht einer ISIS-Mitgliedschaft. Dazu gehören Menschen aus 41 Ländern sowie bis zu 800 aus europäischen Ländern.
Interviewer haben sich zurückhaltend gezeigt, ISIS-Mitglieder, insbesondere aus europäischen Ländern, nach ISIS-Verbrechen wie Versklavung und Massenvergewaltigung von Jessidenfrauen und Völkermord zu fragen. In vielen Interviews konzentrierten sich die Fragen vor allem darauf, was passieren würde, wenn das ISIS-Mitglied in sein Herkunftsland zurückkehren würde, nicht auf die Härten, die ISIS und sein Krieg den lokalen Syrern und Irakern auferlegt haben. Tatsächlich hat sich keines der in der letzten Woche befragten ISIS-Mitglieder für den Schaden entschuldigt, der Gruppen wie den Jessiden zugefügt worden war, oder Interesse an den noch fehlenden 3.000 Jessiden bekundet. Dennoch haben sie gesagt, dass sie nach Hause kommen wollen und eine „zweite Chance“ erhalten sollten.
Viele von ihnen zeichnen ein Bild davon, vor ihrem Eintritt zu ISIS in Europa ein privilegiertes Leben geführt zu haben, und dann ein privilegiertes Leben in Syrien, wo sie anscheinend an der Spitze der ISIS-Sozialordnung standen. Einige der Westler schafften es sogar, während des Krieges Geld von Familien zu erhalten, und sie wurden von ISIS von einer Stadt in die nächste evakuiert, wo sie anscheinend in kostenlosem Wohnraum lebten, der Einheimischen abgenommen worden war. Keiner von ihnen sprach davon, einen Job gehabt zu haben während des Lebens bei ISIS und einige beschrieben das Leben als gut und sogar „spaßig“.
Auf die Frage westlicher Medien, ob die ISIS-Mitglieder nach Hause kommen dürfen, antworten die Einheimischen.
„Warum? damit ihre salafistischen Kumpels zu Hause anfangen können, Angriffe durchzuführen, weil sie von jemandem, der bei ISIS ist, ermutigt werden und ihnen Geschichten über ihre Zeit in Syrien erzählen werden?“ fragt jemand auf Twitter.
„ISIS-Mitglieder werden damit davonkommen, weil die Opfer keine Westler sind, in einem weit entfernten Land leben und kein Englisch sprechen“, schreibt Jenan Moussa von Araba Al Aan TV.
Ali Y. Al-Baroodi, der die ISIS-Besetzung Mosuls überlebte, war schockiert zu sehen, wie ISIS-Mitglieder ihr angenehmes Leben in den letzten Jahren beschrieben, bevor sie besiegt wurden.
„Es war die Hölle auf Erden und jeder einzelne von ihnen hat dafür gesorgt, dass es das war„, sagte er.
Von den Ausländern, die den Irak und Syrien besetzten, wie „Menschen zweiter Klasse“ behandelt, fragt er sich sarkastisch, ob die ISIS-Mitglieder, die sich jetzt als Opfer ausgeben, wollen, dass sich die Einheimischen „entschuldigen, dass sie ihren Aufenthalt hier gestört haben“. Er twittert, dass die ISIS-Mitglieder nicht unschuldig sind und versucht, die Welt an die vermissten Jessidenfrauen zu erinnern, „zerstörte Städte und Hunderte von Massengräbern, [und] Tausende von Waisenkindern und Witwen“.
Viele andere, die den syrischen Konflikt aufmerksam verfolgt haben, sind auch empört über die plötzliche Sympathie, die den westlichen ISIS-Mitgliedern, die in Syrien gefunden wurden, zuteil wird.
„Es ist unmöglich, Mitgefühl für sie zu empfinden. Sie ging als Kolonisatorin nach Syrien, einige Monate nachdem ISIS Journalisten und Helfer enthauptet hatte“, schreibt Idrees Ahmad, ein Autor und Akademiker. Er argumentiert, dass sie sich der Gerechtigkeit stellen muss. „Syrien hat keinen Mechanismus, um eine solche Gerechtigkeit zu schaffen. Es liegt also in der Verantwortung des britischen Staates. Aber Großbritannien muss sicherstellen, dass es den Fehler Amerikas nicht wiederholt. Guantanamo war einer der größten Propagandatriumphe für Dschihad-Rekrutierer.“
„Es ist verrückt für mich, dass gefangene westliche ISIS-Mitglieder in erster Linie als Menschen betrachtet werden, die ihren Heimatländern schaden könnten oder auch nicht. Sie sind Kolonisatoren, die Syrer und Iraker versklavten, vergewaltigten und ermordeten“, schreibt Ahmad.
Molly Crabapple ist Mitautorin von Brothers of the Gun, einer Memoire an den Syrischen Krieg. Sie stellt fest, dass weibliche Mitglieder von ISIS eine Schlüsselrolle beim Missbrauch und der Versklavung von Einheimischen gespielt haben.
„Ich glaube, dass die Länder die Opfer von Verbrechen, die von ihren ISIS-Kämpfer-Bürgern begangen wurden, entschädigen müssen. In einem Fall, von dem ich weiß, hat ein belgischer Mann mit Hochschulbildung die Wohnung eines syrischen Mannes gestohlen, dann gekauft und wiederholt eine versklavte Irakerin vergewaltigt.“
Westler gingen in den Irak und nach Syrien, um „ihre gewalttätigen Fantasien zu erfüllen“, sagte sie. Wie viele andere fragt sie sich, warum sich die Medien nicht darauf konzentrieren, die Geschichten von Einheimischen zu erzählen, die unter ISIS gelitten haben, statt der Geschichten der Täter.
Murad Ismael, Mitbegründer von Yazda, einer Organisation, die Jessiden hilft, möchte auch die weiblichen Opfer hervorheben, die vergessen zu sein scheinen.
„Wie zum Teufel sollen wir zukünftige Massenverbrechen stoppen, wenn wir ISIS ungestraft lassen?“, schreibt er. „Tausende von Terroristen verließen ihre himmlischen Länder und kamen in den Irak und nach Syrien. Sie kamen und ermordeten unsere Männer, vergewaltigten und versklavten unsere Frauen und Mädchen und nahmen unsere Kinder.“
Trotz der Wutausbrüche konzentrieren sich viele westliche Medien weiterhin in erster Linie auf ihre eigenen Bürger, die sich ISIS angeschlossen haben: Eine Amerikanerin „bettelt“ darum, nach Hause zu kommen, eine Kanadierin „gefangen in Syrien“, die jetzt ihre zweite Chance will.
Viele der westlichen ISIS-Mitglieder, die zu Hunderten aufgetaucht sind, als der Krieg in Syrien zu Ende geht, sind erst seit wenigen Wochen oder Monaten in Vertriebenenlagern, während ihre Opfer oft nach vier Jahren noch immer in Vertriebenenlagern leben.
Während die ISIS-Mitglieder sagen, dass sie nach Hause gehen und eine zweite Chance erhalten wollen, gibt es oft kein Zuhause mehr für die Opfer von ISIS, und die ISIS-Mitglieder haben keine Reue oder den Wunsch geäußert, den Minderheiten im Irak und in Syrien, die sie zum Völkermord geführt haben, eine zweite Chance zu geben.
Viele fragen sich, ob der Krieg wohl so endet, mit Aufmerksamkeit und Sympathie für die Täter und mit Stille für die Hinterbliebenen in Syrien – die durch den ISIS-Krieg zerrissen und auseinandergerissen wurden.