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Mitten im Konflikt: Die Zukunft des Gaza-Streifens neu bewerten

David Newman, 24. November 2023, defactostates.ut.ee
aus dem Englischen von Daniel Heiniger

Der anhaltende Krieg in Israel und im Gaza-Streifen bedroht die fragile Stabilität der gesamten Region. Die mögliche Beteiligung der Hisbollah und des Libanon, der Raketenbeschuss aus dem Jemen auf den Süden Israels und die offenkundige Beteiligung des Irans am Schüren und Unterstützen der Gewalt und des Terrors verheißen nichts Gutes für die nahe Zukunft. Gleichzeitig ist das relative Schweigen der anderen wichtigen Akteure im Nahen Osten – Ägypten, Saudi-Arabien und die Golfstaaten – sowie die Tatsache, dass sie ihre formellen Beziehungen zu Israel nicht abgebrochen haben, ein deutlicher Hinweis darauf, dass sich die regionale Geopolitik in den letzten Jahren stark verändert hat.

Der Gazastreifen ist nur ein kleines Stückchen Land. Mit einer Fläche von nicht mehr als 365 Quadratkilometern und einer rasch wachsenden Bevölkerung von etwa zwei Millionen Einwohnern ist er eine der am dichtesten besiedelten territorialen Einheiten auf der Oberfläche der Welt. Seine Entstehung im Laufe der Zeit, der Zustrom von Flüchtlingen, insbesondere 1948 und 1967, und seine fast vollständige territoriale Umschließung durch Israel (im Osten und Norden), durch Ägypten (im Süden entlang der so genannten Philadelphi-Linie) und wiederum durch Israel in seinen Meeresgewässern haben zu großen Hindernissen für jede normale Entwicklung geführt – selbst wenn es ein normales ziviles und demokratisches Regierungssystem gäbe, was nicht der Fall ist. [1]

Die Grenzen des Gazastreifens

Als Israel sich 2005 aus dem Gazastreifen zurückzog, das jüdische Siedlungsnetz auflöste und einen Großteil der bestehenden Infrastruktur an die Palästinensische Autonomiebehörde übergab, gab es in der israelischen Öffentlichkeit eine deutliche Mehrheit für diesen Schritt. Damals glaubte man, dass die Entwicklung des Gazastreifens unter palästinensischer Herrschaft – als eine Art Mikrostaat, wenn auch nur dem Namen nach – als Hinweis auf die mögliche nächste Phase des Rückzugs in Teilen des Westjordanlands dienen würde. Doch die demokratische Wahl einer Hamas-Regierung, die zunehmende Radikalisierung und die Umwandlung des Gebiets in eine Basis für Raketenangriffe auf Israel, die zu einer Reihe von Kleinkriegen und Vergeltungsmaßnahmen führten, erwiesen sich als das Gegenteil aller Erwartungen und gipfelten in dem aktuellen Krieg, der am 7. Oktober 2023 mit den Angriffen und Übergriffen der Hamas auf Israel begann.

Dies führte auch zu einem bedeutenden Umschwung in der öffentlichen Meinung Israels in Bezug auf die Möglichkeit eines weiteren Rückzugs und einer eventuellen Zwei-Staaten-Lösung für den andauernden israelisch-palästinensischen Konflikt, wobei sich die Linke in die Mitte, die Mitte nach rechts und die gemäßigte Rechte nach Rechtsaussen bewegte, was bei den Wahlen von 2022 zur Wahl der extremsten rechtsgerichteten Regierung in der Geschichte Israels führte, die einen territorialen Rückzug oder eine palästinensische Eigenstaatlichkeit strikt ablehnt.

Hinterfragen der israelischen Sicherheits- und Verteidigungsdoktrin

Die Ereignisse vom 7. Oktober haben viele Fragen zur seit langem geltenden israelischen Sicherheits- und Verteidigungsdoktrin aufgeworfen. Erstens hat der israelische Geheimdienst, der normalerweise als einer der besten der Welt gilt, eindeutig versagt, da er nichts von dem Hamas-Angriff entlang der gesamten Grenze und der Infiltration von etwa 3000 Terroristen über die Grenze wusste, die als stark befestigt und praktisch uneinnehmbar galt.

Zweitens führte die zugrundeliegende Annahme, dass es aufgrund der stark befestigten Grenze keine nennenswerten Bewegungen aus dem Gazastreifen nach Israel geben könne, außer über die genehmigten Grenzübergänge, dazu, dass die meisten Bodentruppen aus der Region verlegt wurden, viele von ihnen ins Westjordanland, um das israelische Siedlungsnetz in dieser Region zusätzlich zu sichern. So dauerte es nach dem Einmarsch in die israelischen Siedlungen auf der israelischen Seite der Grenze fast zehn Stunden, bis die Truppen wieder dorthin verlegt waren, und in dieser Zeit fanden die meisten Tötungen und Zerstörungen in den Gemeinden statt.

Die Ereignisse vom 7. Oktober haben auch ernste Fragen zur Wirksamkeit der physischen Grenzen bei der Erreichung der notwendigen Sicherheits- und Verteidigungsziele aufgeworfen. Obwohl die wahllosen Raketenangriffe aus dem Gazastreifen auf die benachbarten israelischen Städte und Landgemeinden in den letzten zehn Jahren zugenommen haben, wurde dem weitgehend durch das Raketenabwehrsystem „Iron Dome“ begegnet, dem es gelungen ist, den Abschuss von Raketen innerhalb von Sekunden aufzuspüren und sie erforderlichenfalls (wenn man davon ausging, dass sie auf Städte und nicht auf leere Flächen gerichtet waren) in der Luft zum Absturz zu bringen. Das „Iron Dome“-System hat eine hohe Erfolgsquote, während künftige Modifikationen, insbesondere die Fertigstellung eines Laser-Raketenabwehrsystems, das Presseberichten zufolge in etwa zwei Jahren einsatzbereit sein soll, eine noch präzisere und schnellere Reaktion auf zahlreiche Raketen ermöglichen würden, die auf Israel abgefeuert werden.

Der Bau von Tunneln unter der Grenze zwischen Israel und Gaza, durch die Terrorgruppen nach Israel und in die Nachbargemeinden eindringen konnten, wurde durch den Bau einer fast zwanzig Meter unter der Erde liegenden Betonmauer entlang der gesamten Grenze beendet, wodurch eine Art eiserne Festung geschaffen wurde. Die Vorstellung, dass Terrorgruppen den bestehenden Zaun und die Mauern um den Gazastreifen herum einfach durchbrechen würden, wurde als unrealistisch angesehen, und dies erklärt weitgehend das Fehlen israelischer Truppen an irgendeinem Punkt entlang der gesamten Grenze und ihre Stationierung anderswo.

Bild: Die unterirdische Mauersperre zwischen Israel und dem Gaza-Streifen (Quelle: Israelisches Verteidigungsministerium – öffentlich zugänglich)

In den letzten Jahren wurden die milliardenschweren Grenzbefestigungen jedoch mit viel billigeren und einfacheren Mitteln angegriffen. Das Anbringen von Brandsätzen an einfachen Ballons, das Abwarten, bis der Wind in die richtige Richtung weht, das Überqueren der Grenze und das Inbrandsetzen der Ernten der Gemeinden in Grenznähe hat sich als wirksam erwiesen, ebenso wie der Einsatz von 100-Dollar-Drohnen oder, wie am 7. Oktober, von Drachenfliegern zum Überqueren der Grenze (Abb. 3a und 3b). Nichts davon erfordert Investitionen in Höhe von mehreren Milliarden Dollar, und es hat sich gezeigt, dass selbst einige der ausgeklügeltsten und am besten gesicherten Grenzanlagen der Welt überwunden werden können. Ein möglicher Rückzug der israelischen Truppen aus dem Gazastreifen und eine Rückkehr zur Grenzverwaltung und -kontrolle wird diese Faktoren berücksichtigen müssen, falls und wenn die israelischen Truppen aus dem Gazastreifen abziehen.

Bild: Mauerdurchbruch mit Luftballons (Quelle: Zeitung Hamodia)

 

Bild: Mauerdurchbruch mit Traktoren (Quelle: Ynet News)

Zukunftsaussichten und Ungewissheiten

Es ist schwierig, über die Zukunft des Gazastreifens zu schreiben, solange der Krieg andauert und es keine realistische Sicht auf diesen Krieg gibt, trotz der gegenwärtigen begrenzten Waffenruhe zum Zwecke der begrenzten Rückkehr entführter Zivilisten und Geiseln (in der ersten Phase Frauen und Kinder), die in naher Zukunft beendet sein wird. Doch irgendwann wird der bewaffnete Konflikt beendet sein, und man wird sich erneut Gedanken machen müssen über die Sanierung und den Wiederaufbau der gesamten Region und über die politischen Formen der Kontrolle und Verwaltung, die für alle Seiten akzeptabel sein werden.

Die öffentliche Meinung in Israel, mit Ausnahme der extremen Rechten, wird einer langfristigen militärischen Besetzung oder Verwaltung des Gazastreifens nicht zustimmen, und früher oder später werden sich die Truppen – nachdem sie die militärischen Fähigkeiten der Hamas beschädigt oder vielleicht sogar ganz zerstört haben – wieder nach Israel zurückziehen müssen. Gleichzeitig wird Israel keiner Form der Kontrolle durch die Hamas (oder einer ähnlichen Form) zustimmen, während die Palästinenser keiner Form der Kontrolle oder Verwaltung zustimmen werden, bei der Israel eine direkte Rolle spielt. Der Vorschlag, dass die gemäßigtere (sic) Palästinensische Autonomiebehörde, die derzeit noch die Autonomiegebiete im Westjordanland kontrolliert, die Kontrolle übernehmen könnte, scheint angesichts ihrer internen Schwäche und der Tatsache, dass dies den Wünschen der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen zuwiderlaufen würde, unwahrscheinlich.

Irgendeine Form der regionalen oder internationalen Verwaltung müsste den Forderungen beider Seiten gerecht werden und könnte nach den bisherigen Erfahrungen mit einer solchen externen Verwaltung – insbesondere von Seiten der Vereinten Nationen – in diesem Teil der Welt sehr schnell scheitern. Die internationale Friedenstruppe auf der Sinai-Halbinsel, die den israelisch-ägyptischen Frieden aufrechterhält, ist eine internationale Truppe unter amerikanischer Führung, die mit ziemlicher Sicherheit von den Palästinensern und ihren externen Unterstützern wie der neuen Achse Iran-China-Russland abgelehnt würde, während eine vorübergehende Verwaltung durch die Vereinten Nationen (vielleicht zusammen mit einer EU) beweisen müsste, dass sie in der Lage ist, die schrittweise Rückkehr der Hamas (oder einer ähnlichen Organisation) an die Macht zu verhindern – etwas, wozu sich frühere UN-Truppen angesichts des lokalen Drucks als unfähig erwiesen haben.

Der unmittelbare Nachbar des Gazastreifens im Süden, Ägypten, ist nicht an einer direkten Beteiligung interessiert. Von 1948 bis 1967 verwaltete Ägypten den Gaza-Streifen, ähnlich wie Jordanien das Westjordanland. Es war jedoch eine harte Verwaltung, die den Einwohnern nicht in positiver Erinnerung geblieben ist. Als Israel Anfang der 1990er Jahre die Osloer Abkommen mit den Palästinensern unterzeichnete oder als sich Israel 2005 aus dem Gazastreifen zurückzog, machte Ägypten deutlich, dass es nicht daran interessiert ist, sich einzumischen, sondern lediglich die strenge Kontrolle über die Philadelphi-Grenze zwischen seinen jeweiligen Gebieten aufrechtzuerhalten. Die Grenze war seit 2005 die meiste Zeit über geschlossen und stark befestigt (abgesehen von den Tunneln), und es dauerte über einen Monat, bis Ägypten den Grenzübergang öffnete, um Ausländern und verletzten Zivilisten den Übergang von Gaza nach Ägypten zu ermöglichen.

Bild: Die Philadelphi-Linie zwischen Ägypten und dem Gaza-Streifen (Quelle: Unbekannt)

 

Bild: Die befestigte Philadelphi-Grenze zwischen Ägypten und dem Gazastreifen (Quelle: Al-Monitor)

In der Vergangenheit war die Rede von der Notwendigkeit, die territoriale Basis des Gazastreifens zu erweitern. Als in den Diskussionen unmittelbar nach der Konferenz von Oslo von der möglichen Gründung eines palästinensischen Staates die Rede war, wurde auch die Möglichkeit eines Landtauschs zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde erörtert, um den Verbleib vieler israelischer Siedlungen (im Westjordanland) zu ermöglichen, während die Palästinenser für Land an anderer Stelle innerhalb und im Umkreis der Grünen Linie entschädigt würden, und zwar in Gebieten mit relativ wenigen oder gar keinen israelischen Siedlungen. Dies geschah zu einer Zeit, als die israelische Siedlungsbevölkerung im Westjordanland fast die Hälfte (250.000) der heutigen Zahl (über eine halbe Million) ausmachte.

Ein Vorschlag sah vor, dem Gazastreifen Land für einen palästinensischen Staat hinzuzufügen, und zwar innerhalb Israels unmittelbar entlang der israelisch-ägyptischen Grenze sowie zusätzliches Land innerhalb Ägyptens, so dass die Gaza-Region des palästinensischen Staates über ausreichend Land für seine Expansion und Entwicklung verfügen würde. Diese Idee wurde jedoch nie weiterverfolgt, da die Post-Oslo-Verhandlungen schließlich während einer fünfjährigen Übergangszeit scheiterten, in der alle noch offenen Fragen – israelische Siedlungen, Flüchtlinge, Jerusalem, geopolitische Wasserfragen usw. – gelöst werden sollten. In Wirklichkeit führte diese Zeit, in der der israelische Premierminister Yitzchak Rabin von einem Rechtsextremisten ermordet wurde und in der radikale Friedensverhinderer eingriffen, zum Ende aller weiteren Verhandlungen und schließlich zum Scheitern der Osloer Abkommen.

Eines der ungelösten territorialen Probleme im Zusammenhang mit einem künftigen palästinensischen Staat betrifft die Verbindung zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland, vorausgesetzt, sie bleiben Teil einer einzigen politischen Behörde. In der Zeit nach Oslo waren drei sichere Durchgangsrouten vorgesehen, von denen zwei eine Zeit lang funktionierten (die dritte, die über Jerusalem geführt hätte, wurde von Israel abgelehnt). Eine ununterbrochene territoriale Verbindung zwischen den beiden Regionen konnte nicht geschaffen werden, da dies einen Bruch der territorialen Integrität und Kontinuität Israels erfordert hätte.

Es ging vor allem um Verwaltung und Kontrolle und um das Recht Israels, den Durchgang von Menschen und Gütern täglich zu kontrollieren. Solange die Osloer Vereinbarungen galten und vor dem Bau der Mauer und des Zauns um das Westjordanland, hat diese Regelung jedoch ohne Probleme funktioniert. Eine solche Verbindung ist notwendig, da sie den Palästinensern des Gazastreifens im Westjordanland bessere Beschäftigungs- und Bildungsmöglichkeiten bietet und dem ansonsten eingeschlossenen Westjordanland Zugang zu einem Seehafen am Mittelmeer verschafft. Ob eine solche Verbindung im Rahmen einer künftigen Vereinbarung möglich wäre, hängt in hohem Maße von der politischen Verwaltung und der Fähigkeit der heute sehr schwachen Palästinensischen Autonomiebehörde ab, die Kontrolle über den Gazastreifen in einer möglichen Nach-Hamas-Ära wieder zu übernehmen.

Durch umfangreiche Investitionen in den Wiederaufbau eines Großteils des Gazastreifens (zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts ist der nördliche Teil des Streifens, in dem die Kämpfe stattfinden, fast vollständig zerstört) müsste dieses Mal auch sichergestellt werden, dass die internationale Hilfe – sei es von der UNO, der EU oder Katar – wirklich in den Aufbau von Wohnraum und zivilen Einrichtungen fließt und nicht in die Stärkung militärischer Kapazitäten oder in neue unterirdische Tunnelsysteme – eine unterirdische Stadt unter dem gesamten Gazastreifen. Dies würde eine starke internationale Präsenz erfordern, und wie bereits erwähnt, ist nicht klar, woher diese zum jetzigen Zeitpunkt kommen soll. Die Idee, dass sich Gaza zum Singapur des Nahen Ostens entwickeln könnte, ist ein schöner Slogan, der aber leider nicht mehr als ein Traum und eine Vision ist, die so gut wie keine Chance auf Verwirklichung hat.

Die Tatsache, dass die derzeitige israelische Regierung, die sich formell in einem andauernden Kriegszustand mit der Hamas befindet, keinen klaren Ausweg aus diesem Krieg sieht, deutet darauf hin, dass eine künftige politische territoriale Regelung für den Gazastreifen als selbstkontrollierende Einheit oder Mikrostaat noch nicht geklärt ist. Die derzeitige Situation der Instabilität wird wahrscheinlich noch einige Zeit andauern, bis weit in das Jahr 2024 und vielleicht sogar 2025, da die Region einer sehr ungewissen Zukunft entgegensieht.


Anmerkung des Übersetzers:

[1] Ich bin nicht einverstanden mit dieser Ursachenbenennung. Andere kleine territoriale Einheiten können sich bestens entwickeln, auch wenn sie von anderen Ländern umschlossen sind. Gerade weil es kein normales ziviles und demokratisches Regierungssystem gab und gibt, kann sich Gaza nicht normal entwickeln.

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