Ohm Mitsamt, 4. Juli 2021, Zentralrat der Exmuslime
mit freundlicher Genehmigung des Autors
Ich wurde also schon mit sechs Jahren zum Beten vor jeder Unterrichtsstunde aufgefordert. Eine Benediktiner-Nonne aus dem angrenzenden Kinderheim übernahm die „Obhut“ meiner – der Einflussnahme der Kirche und ihrer Funktionäre mit ihrer auf Wehrlosigkeit und Unterwürfigkeit getrimmten Erziehung ausgelieferten – jungen Psyche.
Glücklich und dankbar übernahm der Sechsjährige jegliche Aufforderung zur Selbstaufgabe, ganz dem sich dem eigenen Tod ausliefernden Idol gleich, für ein angeblich höheres Ziel: die Rettung der Welt und die völlige Negierung der eigenen individuellen Persönlichkeit. Diese wurde schon früh hinterfragt und als teilweise böse und schuldhaft gesehen – ohne helfende Intervention von reiferer, sozial und ethisch erwachsener Seite, nur angeleitet durch die Regeln veralteter Glaubens- und Wertvorstellungen, die das eigene Schuldempfinden bekräftigten und zementierten.
Diese Vorgänge wurden auch im zunehmenden Alter nicht angezweifelt oder korrigiert. Ich verinnerlichte diese Ideologie des Sich-ständig-in-Frage-Stellens, und fortwährend durchsuchte ich im Laufe der Adoleszenz meine bereits durch diese Prozesse geschädigte Psyche nach möglichen Verfehlungen.
Schon früh fiel ich durch schlichtendes Verhalten in der Grundschule auf, freundete mich schnell mit Neuzugängen in der Klassengemeinschaft an und zeigte besonderes Interesse an sozial und gesellschaftlich Ausgegrenzten. Entgegen der überall geächteten und doch existierenden Ausländerfeindlichkeit und den damit verbundenen Vorurteilen gegenüber fremden Lebensweisen und Mentalitäten wurde ich zum selbsternannten „Botschafter des Friedens“. Polen, Jugoslawen und Muslime zählte ich zu meinen Freunden, immer in der Annahme, dass vor einem allgemein gültigen Gerechtigkeitsanspruch alle gleich sind, dass allen dieselben Rechte zustehen. Das galt für mich als universelles Gesetz.
Kein Zweifel kam mir in den Sinn: Der Gastgeber, das Land meiner Eltern, meiner Familie, hat sich höflich den Gästen, den Schutzbefohlenen, zuzuwenden. So wurde es mir seit jeher vermittelt, ohne Wenn und Aber…..Aber auch bis zur Selbstaufgabe?
Eine Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit in der Schule, wie auch damals schon in den Medien, schärfte meinen Gerechtigkeitssinn, führte aber zu einem Schuldkomplex, der mein ohnehin schon schlechtes Gewissen zusätzlich belastete.
Die Siebziger und Achtziger endeten, die einst heile Welt des elterlichen Zuhauses schließlich auch. 1993 zog ich in den sozial schwächsten Stadtteil meiner Heimatstadt, Erfahrungen und Freundschaften meiner Jugend im teilweise linksextremen Milieu (auch hier werden moralische Ansprüche bis zur Absurdität gesteigert, wie einst in der Grundschule), in Subkulturen und sogar in der muslimischen Community hinter mir lassend. Meine eigene Wohnung!
Ein Schlag ins Gesicht – oder in die Heile-Welt-Fassade der Siebzigerjahre? In meiner neuen Heimat, dem „Hoheitsgebiet“ der etwas anderen, hauptsächlich muslimischen Gesellschaft, wurde ich misstrauisch beäugt – irgendwas schien mit mir nicht zu stimmen? Ein zu lange währender Blick, eine wortlose Kommunikation wurden häufiger Anlass für Komplikationen mit den unbekannten jungen Männern, deren leicht verletzbares Ehrgefühl schnell zu Aggressionen führte. Ein koreanischer Freund vermutete ein zu „deutsches Aussehen“, das heißt für meine neue muslimisch geprägte Umgebung war ich jetzt der „Fremde“. Ich versuchte, das Spiel der vertauschten Rollen zu verstehen und führte die Aggressionen, die mir entgegenschlugen, auf den Groll der von feindlichen Vorurteilen gekränkten Migranten zurück. Ich fühlte wieder eine Schuld, eine Kollektivschuld. Eine ganze Generation von Schuldbewussten sollte später diesen Zeitgeist eskalieren lassen.
Aufgrund des Rauchverbots in meiner Wohnung, begründet durch meine Lungenerkrankung, verließ meine damalige Freundin nach einem nächtlichen Streit die Wohnung, um nach ein, zwei Zigaretten einen klaren Kopf zu bekommen. Sie ging aus dem Mietshaus und entfernte sich zwanzig, dreißig Meter von der Haustür. Es war ungefähr 3:30 Uhr in der Nacht.
Auf dem naheliegenden Sportplatz, des Nachts häufig lautstark von Jugendlichen belebt, waren auch in dieser Nacht junge muslimische Männer aus der Siedlung versammelt, eventuell den Alltag resümierend, gelangweilt.
Zuerst erspähten zwei, schließlich fünf oder sechs Männer die 1,65 m kleine, zierliche, blonde Frau und umkreisten, umzingelten sie, Wölfen gleich, wie eine Beute.
Es folgte ein „Verhör“. Fragen nach der religiösen Zugehörigkeit und der damit vermuteten Ehrbarkeit („Bist du Muslima?“) und dem Verbleib des augenscheinlich fehlenden männlichen Begleiters ( „Bist du verheiratet?“, „Welche deutsche Kartoffel lässt dich um diese Zeit raus?“) wurden gestellt, schließlich die bedrohliche Frage, was sie glaube, was man jetzt mit ihr vorhabe.
Auf die Drohung meiner Freundin hin, sie bringe denjenigen um, der sie misshandele, wurde es einem der jungen Männer zu heikel, und er verlor den Mut. Nach seiner Aufforderung abzulassen löste sich die gespenstische „Scharia-Polizei“ auf und verschwand.
Durch die in deren Erziehung vermittelte Geschlechterhierarchie, das heißt die vollkommene Überlegenheit des männlichen Geschlechts über das weibliche, durch die Ablehnung des humanistischen Bildungs- und Werteverständnisses und durch die Abwesenheit von Vertretern der öffentlichen Sicherheit kam es hier zu einer Konfrontation zwischen zwei sich gegeneinander ausschließenden Weltanschauungen. Mancherorts mit fatalerem Ausgang…
Ein endgültiger Bruch mit meiner christlichen Vergangenheit war unumgänglich – auch im Christentum zählten Patriarchat, Frauenverachtung und Homophobie zu den Wertevorstellungen, nur die Aufklärung und der Humanismus legten dieser Ideologie einen Maulkorb um. Fortan sollte der reine Logos und eine rationale Betrachtungsweise der Welt, zu der auch ich fähig war, meine Handlungen lenken und leiten – ich wollte keinem Phantasieprodukt, welches stets meinen Blick trübte oder verzerrte, gefallen und folgen. Ich überwand durch atheistische Argumentation mein naives Gefühl des „Gottesverrats“ und warf endgültig die Ketten meines Geistes ab.
Eine Mitgliedschaft in einer humanistischen, atheistischen Organisation sollte meinen neu gewählten Weg begleiten und helfen, zukünftig auf meinen EIGENEN inneren Kompass zu vertrauen und mich freidenkerisch nicht mehr von gedanklichen Tabus beengen zu lassen, nur demokratischen und menschenrechtlichen Werten verpflichtet. Ich bin auf diesem Weg, aber nicht mehr auf einer Suche!
Mit den in einem absolvierten Illustrationsstudium vermittelten Techniken und Fähigkeiten möchte ich mich auch künstlerisch und persönlich mit dem Thema Religion und speziell dem Islam auseinandersetzen, eine Verarbeitung des Erlebten und Erfahrenen ist für mich nur auf diese Weise des Ausdrückens wirklich möglich.
Durch die tagelange Arbeit und die innere Verbundenheit mit der Thematik eines Bildes, die sich auf diese Weise vertieft, ist das vollendete Werk eine Form des Mitteilens, ein Medium meiner individuellen Botschaft, vergleichbar dem Meinungsartikel eines Journalisten, bei dem allerdings im Allgemeinen die sinnliche Ästhetik eines künstlerischen Werkes fehlt.