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Die Entscheidungen im Krieg: Hamas benutzt entführte Israelis als menschliche Schutzschilde, was soll Israel tun?

Alan M. Dershowitz, 16. Oktober 2023, Gatestone Institute
aus dem Englischen von Daniel Heiniger

Israel hat nach Völkerrecht das Recht, den Tod seiner eigenen Zivilisten zu verhindern, auch wenn es dabei versehentlich den Tod feindlicher Zivilisten verursacht. Im Bild: Ein Hamas-Terrorist hält zwei der vielen israelischen Kinder, die die Hamas entführt und als Gefangene in den Gazastreifen gebracht hat, am 7. Oktober 2023. (Bildquelle: Hamas/X [Twitter])

Die seit langem praktizierte Strategie der Hamas, palästinensische Kinder und andere Zivilisten als menschliche Schutzschilde zu benutzen, wirft die wichtige und alte moralische Frage auf, das Leben feindlicher Zivilisten gegen das Leben der eigenen Zivilisten und Soldaten abzuwägen. Selbst wenn einige der palästinensischen „Zivilisten“ nicht ganz unschuldig sind, und selbst wenn ihr Tod unbeabsichtigt war und in Zusammenhang mit legitimen militärischen Zielen steht, ist er tragisch. Israel hat nach Völkerrecht das Recht, den Tod seiner eigenen Zivilisten zu verhindern, auch wenn es dabei versehentlich den Tod feindlicher Zivilisten verursacht.

Es gibt kein solches moralisches Kalkül, um die Kosten zu bemessen, die Israel entstehen, wenn es bei seinen legitimen Bemühungen, künftige Angriffe auf seine Zivilisten und aktuelle Angriffe auf seine Soldaten zu verhindern, unbeabsichtigt den Tod seiner eigenen Bürger verursacht, die von der Hamas illegal und unmoralisch als menschliche Schutzschilde benutzt werden. Dies ist eher eine taktische als eine moralische Frage, obwohl sie Elemente von beidem enthält. Doch es handelt sich um komplexe Entscheidungen, die ausschliesslich Israel treffen darf, ja muss. Kein Völkerrecht und keine universelle Moral haben hier etwas zu sagen, denn hier geht es um das Leben der israelischen Geiseln und um andere Dinge.

Wie sollte Israel also das Leben der Geiseln gegen das seiner Soldaten und seiner zukünftigen zivilen Opfer abwägen? Es gibt keine eindeutige Antwort, die sich aus der Geschichte, der Moral, der militärischen Taktik oder einem anderen Wissens- und Erfahrungsschatz ableiten lässt. Ein paar Verallgemeinerungen könnten jedoch relevant und lehrreich sein.

Das Leben der Zivilbevölkerung eines Landes wird mehr geschätzt als das Leben von Soldaten. Das liegt daran, dass es zur Aufgabe des Soldaten gehört, sein Leben für den Schutz der Zivilbevölkerung zu riskieren. In einem Land wie Israel, in dem es fast eine allgemeine Wehrpflicht gibt, ist dies vielleicht nicht so offensichtlich. Diese und andere Mikrofragen ändern nichts an der Makro-Antwort, dass, wenn eine tragische Entscheidung zwischen dem Leben eines Soldaten und dem eines Zivilisten getroffen werden muss, unter sonst gleichen Bedingungen das Leben des Zivilisten priorisiert werden sollte.

Aber es ist nie alles gleich, vor allem nicht im Nebel des Krieges oder gar bei der Kriegsplanung von einem Hauptquartier aus, das weit vom Schlachtfeld entfernt ist. Taktische und strategische Erwägungen können die Opferung von Zivilistenleben erfordern. Die Geschichte von Winston Churchills Entscheidung bezüglich der deutschen Bombardierung von Coventry – ob ganz oder teilweise wahr – veranschaulicht das Dilemma.

Historiker haben lange darüber debattiert, ob Churchill von der Bombardierung Coventrys durch die Luftwaffe, die 507 zivile Todesopfer forderte, wusste, sich aber weigerte, die Einwohner von Coventry zu warnen, weil eine solche Warnung den Deutschen verraten hätte, dass die Briten den deutschen Enigma-Code geknackt hatten. Diese Enthüllung hätte den Tod vieler britischer Soldaten zur Folge gehabt, die sich auf die mit Hilfe der Enigma gesicherten Informationen verließen, die nicht mehr verfügbar gewesen wären, wenn die Deutschen gewusst hätten, dass sie geknackt worden waren.

Natürlich war jeder Tod eines Zivilisten in Coventry rechtlich, moralisch und politisch allein die Schuld der Nazis, so wie jeder Tod einer israelischen Geisel, die als menschliches Schutzschild benutzt wurde, die Schuld der Hamas wäre, unabhängig davon, wer den tödlichen Schuss abgegeben hat. Dies löst jedoch nicht das Problem für israelische Politiker, Generäle oder Soldaten, wie viel Risiko für ihre eigenen zivilen Geiseln sie bereit sein sollten einzugehen, um ihre legitimen militärischen Ziele zu erreichen.

Um Yitzhak Rabin zu paraphrasieren: Israel sollte versuchen, über die Freilassung der Geiseln zu verhandeln, als ob es keinen Bodenkrieg gäbe, und den Bodenkrieg so führen, als ob es keine Geiseln gäbe. Letzteres ist sehr viel schwieriger zu bewerkstelligen als Ersteres, da die unrechtmäßige Inhaftierung israelischer Zivilisten durch die Hamas zu logistischen Einschränkungen der militärischen Optionen vor Ort führt.

Unterm Strich sollte es Israel freistehen, die Balance zu finden, die es für angemessen hält. Es wird natürlich alles tun, um das Leben der Geiseln zu schützen, während die Hamas alles tun wird, um die Geiseln als Waffen gegen das israelische Militär einzusetzen. Es wird nicht einfach sein, aber es muss getan werden.

Alan M. Dershowitz ist der emeritierte Felix-Frankfurter-Professor für Recht an der Harvard Law School und der Autor des kürzlich erschienenen Buches „Get Trump: The Threat to Civil Liberties, Due Process, and Our Constitutional Rule of Law“. Er ist Jack Roth Charitable Foundation Fellow am Gatestone Institute und Gastgeber des Podcasts „The Dershow“.


Erstveröffentlichung bei Gatestone Institute. Reproduktion mit freundlicher Genehmigung.

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