Manfred Gerstenfeld, 1.10.2018, Jerusalem Post
aus dem Englischen von Daniel Heiniger
Merkel kam im Januar 2006 zum ersten Mal nach Israel, als sie die Leitung einer neuen Koalitionsregierung übernahm.
Der Kontrast zwischen dem ersten Besuch der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel in Israel und dem heutigen ist groß. Dies gilt für die Stärke der von ihr repräsentierten Regierung, ihren Status in Deutschland und die Einstellung zur Vergangenheit und Gegenwart Deutschlands.
Merkel kam im Januar 2006 zum ersten Mal nach Israel, als sie die Leitung einer neuen Koalitionsregierung übernahm. Ihre CDU und ihre bayerische Schwesterpartei CSU hatten bei den Parlamentswahlen im September 2005 35,2% der Stimmen erhalten. Der andere Koalitionspartner, die sozialistische SPD, hatte 34,2% der Stimmen gewonnen. Damals befand sich Merkel in einer Position der Stärke in Deutschland und Europa. Diese Positionen sind in den letzten Jahren stark zurückgegangen.
Bei den Wahlen im September 2017 war die Unterstützung für die CDU/CSU auf 32,9% gesunken. Dies war das schlechteste Ergebnis seit der ersten Bundestagswahl nach dem Zweiten Weltkrieg. Die SPD erhielt nur 20,5% der Stimmen. Noch nie in der Geschichte Deutschlands war die Unterstützung der Partei so gering gewesen.
Aus Mangel an einer Alternative bildeten Union und SPD erneut eine Koalitionsregierung. Jüngste Umfragen deuten auf einen weiteren Rückgang der Wählerunterstützung hin. Wenn Neuwahlen stattfinden würden, würden diese Parteien nicht genügend Wähler gewinnen, um gemeinsam eine Mehrheitsregierung zu bilden. Spekulationen darüber, wie lange Merkel als Kanzlerin bleiben kann, sind in den deutschen Medien weit verbreitet.
Im Jahr 2006 besuchte Merkel unter anderem Yad Vashem. Sie schrieb ein Zitat des Entdeckers und Naturforschers Alexander von Humboldt in das Gästebuch: „Diejenigen, die die Vergangenheit nicht verstehen, haben keine Zukunft.“
Bei diesem Besuch in Israel und ihren späteren Besuchen sprach Merkel über die Freundschaft zwischen den beiden Ländern. Doch 2006 gab es starke Anzeichen für Unruhe in der deutschen Bevölkerung über Israel. Eine wenig veröffentlichte Studie der Universität Bielefeld aus dem Jahr 2004 hatte ergeben, dass 68% der Deutschen glaubten, dass Israel einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser führte, während 51% dachten, dass Israel gegenüber den Palästinensern handelte wie die Nazis gegenüber den Juden. Die Anti-Israel-Aufklärungskampagne vieler deutscher Medien war bereits in vollem Gange und hatte dazu beigetragen, diese abweichenden Wahrnehmungen zu schaffen.
Vor dem Hintergrund dieser schrecklichen Meinungen war es beruhigend, dass Merkel entschlossen war, eine pro-israelische Position zu halten. Die anschließenden Besuche von Delegationen deutscher Minister zu Konsultationen zwischen den beiden Regierungen im Laufe der Jahre waren weitere positive Signale.
Die Zahl der in Deutschland lebenden Juden spielte eine besondere Rolle für das Selbstverständnis des Landes. Aufgrund der starken Zuwanderung aus der Sowjetunion überstieg die gemeinsame Mitgliedschaft der deutsch-jüdischen Gemeinden für mehrere Jahre 100.000 Menschen. Sie war während Merkels erstem Besuch in Israel an ihrem höchsten Punkt. Diese bedeutende jüdische Präsenz war ein Indikator für die „Normalität“ in einem Land, das seine Vergangenheit zu verstehen schien, trotz des signifikanten Auftretens antisemitischer Vorfälle.
VIELES DIESER ‚Normalität‘ ist inzwischen aufgehoben worden. Wie andere westeuropäische Länder nahm auch Deutschland eine große Zahl von Einwanderern aus muslimischen Ländern auf. Der Anteil der Antisemiten unter ihnen ist deutlich höher als unter der einheimischen deutschen Bevölkerung. In der amtlichen Statistik sind alle antisemitischen Vorfälle, bei denen die Täter nicht identifiziert werden konnten, als rechtsextrem aufgeführt. Das ist eine bequeme Verzerrung der Wahrheit.
Die Situation verschlechterte sich weiter, als die Bundesregierung im September 2015 begann, eine Aufnahmepolitik für Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Nordafrika zu verfolgen. Das brachte mindestens 1,5 Millionen Flüchtlinge, hauptsächlich Muslime aus Ländern wie Afghanistan, Irak und Syrien. Ein Ergebnis dieser Politik war der Aufstieg einer neuen anti-islamischen Partei, der AfD. Bei den Wahlen 2017 trat sie erstmals in den Bundestag ein und wurde mit 12,9% der Stimmen die drittgrößte Partei. In den letzten Umfragen hat sich ihre Unterstützung weiter erhöht.
Bis Ende 2017 konnte das Tabu über die wichtige Rolle muslimischer Einwanderer und ihrer Nachkommen bei antisemitischen Vorfällen nicht mehr aufrecht erhalten werden. Wichtige Politiker begannen, die große Rolle der Muslime bei Angriffen auf Juden zu erwähnen. Auch der linke Antisemitismus ist prominent und konzentriert sich auf Israel. Besondere Probleme gibt es in einigen Schulen, wo jüdische Kinder belästigt werden und sich nicht verteidigen können.
Im Durchschnitt werden in Deutschland täglich vier antisemitische Vorfälle registriert. Wahrscheinlich wird eine signifikante zusätzliche Anzahl nicht gemeldet. Viele jüdische Jugendliche fragen sich, ob sie in ihrem Geburtsland eine Zukunft haben. Die Willkommenspolitik hat die Zweifel an einer „normalen“ Zukunft für Juden in Deutschland deutlich erhöht. Vor einigen Monaten wurde ein nationaler Antisemitismuskommissar ernannt. Auch verschiedene Bundesländer haben kürzlich einen solchen Funktionär benannt. Diese Entwicklungen werden dazu beitragen, die Art der Probleme besser zu verstehen und zu klären, wie groß die Aufgabe der Bekämpfung des Antisemitismus ist. Der bayerische Antisemitismusbeauftragte Ludwig Spaenle ist ehemaliger Bildungsminister dieses Landes. Er bemerkte, dass er sich, als er seine neue Position annahm, nicht der Vielzahl der vor ihm liegenden Aufgaben bewusst gewesen sei. Die Notwendigkeit solcher offiziellen Ernennungen deutet auch darauf hin, dass Deutschland im Kampf gegen den Antisemitismus versagt hat.
Bei Merkels früheren Besuchen in Israel stand die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern im Vordergrund. Diesmal würden Premierminister Netanyahu und seine Kollegen das deutsche Judentum im Stich lassen, wenn sie den Antisemitismusproblemen des Landes nicht auch einen wichtigen Platz auf der Tagesordnung der Sitzung einräumen würden.
Der Autor ist emeritierter Vorsitzender des Jerusalem Center for Public Affairs. Er erhielt den Lifetime Achievement Award des Journal for the Study of Antisemitism und den International Leadership Award des Simon Wiesenthal Center.