Douglas Murray, 20.11.2018, Gatestone Institute
aus dem Englischen von Daniel Heiniger
- Das erste Problem der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen Elisabeth Sabaditsch-Wolff besteht darin, dass sie bedeutet, dass die Wahrheit zumindest in Fällen von Blasphemie zur Verteidigung nicht ausreicht.
- Ein solches Urteil überträgt die Entscheidung darüber, was gesagt werden darf oder nicht, nicht an ein europäisches oder nationales Gericht, sondern an jeden, der plausibel oder anderweitig behaupten kann, dass eine andere Person „den Frieden“ gefährdet hat.
- Es gibt ähnliche, seit einigen Jahren erprobte Gangstertricks. Sie alle laufen auf die alte Behauptung hinaus: „Ich bin nicht selbst sauer auf dich, ich halte nur meinen Freund hier zurück.“
Zu Beginn dieses Jahrzehnts ereignete sich eine kleine Geschichte, die den Grundstein für die folgenden Jahre legte. Im Jahr 2010 schrieb ein saudischer Anwalt namens Faisal Yamani an die dänischen Zeitungen, die Cartoons über den islamischen Propheten Mohammed veröffentlicht hatten. Der saudische Anwalt behauptete, im Namen von 95.000 Nachkommen von Mohammed zu handeln und sagte, dass die Karikaturen diffamierend seien und dass hiermit ein Gerichtsverfahren eingeleitet werde.
Allerdings stank alles an diesem vermeintlichen Rechtsanspruch. Wie hatte Herr Yamani all diese Nachkommen gefunden? Wie kam er auf genau 95.000 von ihnen? Und wie konnten sie behaupten, dass eine Aussage über jemanden, der vor 1400 Jahren gestorben ist, „diffamierend“ sei? Juristisch gesehen kann man Tote gar nicht „verleumden“.
Alles an der Behauptung war lächerlich, doch sie hatte die gewünschte Wirkung. Mindestens eine dänische Zeitung – Politiken – entschuldigte sich rasch für die Wiederveröffentlichung der Cartoons. Also hat Herr Yamani bekommen, was er wollte. Er hatte (so könnte man vermuten) eine Reihe von mutmaßlichen Opfern beschworen und eine angebliche Straftat zusammengeschustert, aber es war egal, weil er auch noch eine europäische Zeitung dazu brachte, in Sekundenschnelle einzuknicken. Es war eine interessante Probe aufs Exempel für das europäische Justizsystem – und ein gutes Beispiel für Unterwerfung. Und ein schöner Präzedenzfall für das folgende Jahrzehnt.
Heute, acht Jahre später, ist ein noch größerer Akt der Unterwerfung erfolgt. Diese wurde nicht von einem windigen saudischen Anwalt provoziert, sondern vom höchsten Gericht Europas.
Ende letzten Monats hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem langjährigen Verfahren gegen eine Österreicherin namens Elisabeth Sabaditsch-Wolff entschieden. Im Jahre 2009 hielt Sabaditsch-Wolff (die in mehreren muslimischen Ländern gelebt hat) in Wien zwei Seminare mit dem Titel „Grundlegende Informationen zum Islam“. Während dieser Vorträge, mit den Worten des EGMR:
„…diskutierte [sie] die Ehe zwischen dem Propheten Mohammed und einem sechsjährigen Mädchen, Aisha, die angeblich mit neun Jahren vollzogen wurde. Unter anderem erklärte die Klägerin, dass Mohammed ‚es gerne mit Kindern tat‘ und ‚… ein 56-Jähriger und eine 6-Jährige? … Wie nennen wir das, wenn es nicht Pädophilie ist?“
Für diese Aussage, basierend auf dem Text eines offiziellen Hadith [die Taten und Erzählungen über Mohammed], Sahih-Bukhari, Bd. 5, Buch 58, Nr. 234-236, hat das Landeskriminalgericht Wien im Februar 2011 Sabaditsch-Wolff wegen „Herabsetzung religiöser Lehren“ verurteilt. Sie wurde mit einer Geldstrafe von 480 Euro belegt und zur Kostenübernahme verknurrt. In einer Berufung im folgenden Dezember bestätigte das Gericht die Entscheidung. Im Dezember 2013 wies der Oberste Gerichtshof Österreichs einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens ab.
Frau Sabaditsch-Wolff hat ihren Fall deshalb vor den EGMR gebracht und ihren Antrag im Juni 2012 gestellt. Zu ihrer Verteidigung zitierte sie Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der die Meinungsfreiheit schützen soll.
Die Räder der EGMR-Justiz drehen sich jedoch nur langsam, so dass es erst im vergangenen Monat – bloße sechs Jahre nach der Einreichung des Falles – soweit war, dass das Gericht sein Urteil fällte. Gemäß dem Urteil des EGMR:
„Unter Berufung auf Artikel 10 (Meinungsfreiheit) beschwerte sich Frau S., dass die inländischen Gerichte den Inhalt der angefochtenen Äußerungen nicht im Lichte ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung behandelt hätten. Wenn sie es getan hätten, hätten sie sie nicht als reine Werturteile qualifiziert, sondern als Werturteile auf der Grundlage von Fakten.“
Das Gericht entschied, dass das Recht der Menschen, sich nach Artikel 10 zu äußern, nicht an die Stelle des Rechts anderer Menschen tritt, „ihre religiösen Gefühle schützen zu lassen“ (nach Artikel 9). Das Urteil besagt:
„Das Gericht stellte auch fest, dass der Gegenstand der vorliegenden Rechtssache besonders heikel ist und dass die (potenziellen) Auswirkungen der angefochtenen Erklärungen bis zu einem gewissen Grad von der Situation im jeweiligen Land abhängen, in dem die Erklärungen abgegeben wurden, vom Zeitpunkt und vom Kontext, in dem sie abgegeben wurden.“
Das heißt, es sieht so aus, dass eine Aussage in einem europäischen Land geschützt sein könnte und in einem anderen nicht.
„Das Gericht stellte fest, dass die [österreichischen] inländischen Gerichte umfassend darlegten, warum sie der Ansicht waren, dass die Äußerungen der Klägerin gerechtfertigte Empörung hervorrufen konnten; insbesondere waren sie nicht objektiv und mit einem Beitrag zu einer Debatte von öffentlichem Interesse (z.B. über die Kinderehe) abgegeben worden, sondern konnten nur so verstanden werden, dass sie darauf abzielten, zu beweisen, dass Mohammed nicht der Anbetung würdig sei. Sie stimmte mit den inländischen Gerichten darin überein, dass Frau S. sich bewusst gewesen sein muss, dass ihre Aussagen zum Teil auf falschen Fakten beruhen und bei anderen Empörung hervorrufen können. Die nationalen Gerichte stellten fest, dass Frau S. Mohammed subjektiv als mit allgemeiner sexueller Präferenz zu Pädophilie bezeichnet hatte und dass sie es versäumte, ihr Publikum neutral über den historischen Hintergrund zu informieren, was eine ernsthafte Debatte über diese Frage nicht zuließ.
Genauso wichtig ist das Fazit des Gerichts:
„… Die [österreichischen] Gerichte haben das Recht der Klägerin auf freie Meinungsäußerung mit dem Recht anderer, ihre religiösen Gefühle zu schützen und den religiösen Frieden in der österreichischen Gesellschaft zu bewahren, sorgfältig abgewogen.“
Die Tatsache, dass Frau Sabaditsch-Wolff vom österreichischen Gericht angewiesen worden war, nur das zu zahlen, was im EGMR-Urteil als „moderate Geldstrafe“ bezeichnet wurde, bedeutet, dass der EGMR die Strafe nicht als „unverhältnismäßig“ ansieht.
Natürlich hat all dies eine Reihe von Reaktionen hervorgerufen von Leuten, die sagen, dass der EGMR die Einführung eines neuen Blasphemiegesetzes in Europa vollzogen habe, bis hin zu denen, die darauf bestehen, dass es hier nichts zu sehen gibt und dass das Urteil absolut uninteressant sei. Irgendwo in der Mitte gibt es eine Reihe von juristischen Stimmen, die sagen, dass alles, was der EGMR getan hat, ist, zugestimmt zu haben, dass die österreichischen Gerichte das Recht haben, ihre eigenen Entscheidungen in dieser Angelegenheit zu fällen. Also noch einmal – es gibt hier nichts oder zumindest nicht viel zu sehen. Nichts könnte von der Wahrheit weiter entfernt sein.
Das erste Problem, das sich aus der Entscheidung des EGMR zur Aufrechterhaltung des Urteils des österreichischen Gerichts gegen Sabaditsch-Wolff ergibt, besteht darin, dass die Wahrheit zumindest in Fällen der Blasphemie zur Verteidigung nicht ausreicht. Es gibt – wie jeder islamische Gelehrte weiß – signifikante Beweise aus dem Hadith, die es jemandem ermöglichen, einen durchaus plausiblen Fall nach dem Vorbild von Sabaditsch-Wolff zu vertreten. Aber die Gerichte gingen noch weiter. Sie behaupteten, dass ihre Aussagen auf „falschen Fakten“ basierten – was auch immer diese sein mögen. Wie ich bereits an anderer Stelle erwähnt habe, stellt dies für Europäer ein ernsthaftes Problem dar. Es sagt uns, dass Worte, die wir mit eigenen Augen lesen können und die in Büchern stehen, die überall auf der Welt frei erhältlich sind, nicht die Worte sagen, die sie sagen. Was sollen wir also tun? Lügen? Anscheinend schon.
Das zweite Problem ist, dass es eine Debatte über Fakten in eine Debatte über den „Ton“ verwandelt. Wurden bestimmte Dinge auf „objektive“ Weise gesagt oder nicht? So könnte in Zukunft ein Europäer etwas in einem Tonfall und ein anderer dasselbe in einem anderen Tonfall sagen – und dazu könnte eine Strafverfolgung eingeleitet werden. Während der erste Angeklagte damit rechnen kann, vor Gericht geschleppt zu werden, kann dem zweiten erlaubt werden, weiterhin intellektuell und physisch frei zu wandeln. Wer soll das entscheiden?
Das dritte Problem besteht natürlich darin, dass ein solches Urteil die Entscheidung darüber, was gesagt werden darf oder nicht, nicht an ein europäisches oder nationales Gericht überträgt, sondern an jeden, der plausibel oder anderweitig behaupten kann, dass eine andere Person „den Frieden“ gefährdet hat.
Was uns zum Beispiel der 95.000 Nachkommen Mohammeds zurückführt. Es gibt ähnliche, seit Jahren erprobte Gangstertricks. Sie alle laufen auf die alte Behauptung hinaus: „Ich bin nicht selbst sauer auf dich, ich halte nur meinen Freund hier zurück.“ Im österreichischen wie im dänischen Fall scheint sie auf verstörende Weise zu funktionieren. Doch im Universum der Spiele um Vertrauen muss dieses unter den kühnsten und schlimmsten sein.
Wenn eine Gruppe von Leuten sieht, dass das Spiel funktioniert, warum sollten dann nicht auch alle anderen es spielen? Warum sollte keine andere Gruppe in Österreich als die Muslime routinemäßig behaupten, dass ihre Gefühle verletzt wurden, und den Gerichten mitteilen, dass dadurch der „Frieden“ gefährdet wurde? Wenn ich ein österreichischer Christ fundamentalistischer Abstammung wäre, könnte ich durchaus daran denken, an verschiedenen Vorträgen und Predigten in einer Reihe von österreichischen Moscheen teilzunehmen und darauf zu warten, dass einer der Redner die Göttlichkeit und Auferstehung Christi leugnet und dann damit direkt vor Gericht zu rennen. Schließlich könnte eine Leugnung der Auferstehung Christi durch einen Moslem als ernsthaft beleidigend für einen Christen angesehen werden, und wer mag schon sagen, dass der „Frieden“ dadurch nicht gefährdet wird?
Es gibt eine Selbstgefälligkeit, die sich in ganz Europa ausgebreitet hat. Diese Selbstgefälligkeit wird von denjenigen, die gerne sagen, dass das, was gerade im EGMR geschehen ist, nichts wirklich Wichtiges ist, eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Sie liegen falsch. Es ist äußerst wichtig. Nicht nur, weil es ein schreckliches Beispiel für das moralisch verwirrte Jahrzehnt ist, in dem wir uns befinden, sondern weil es schreckliche Voraussetzungen – für Muslime und Nicht-Muslime – für die kommenden Jahrzehnte schafft.
Douglas Murray, britischer Autor, Kommentator und Analyst für öffentliche Angelegenheiten, hat seinen Sitz in London, England. Sein neuestes Buch, ein internationaler Bestseller, ist „The Strange Death of Europe: Immigration, Identity, Islam“.
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Erstveröffentlichung hier. Reproduktion mit freundlicher Genehmigung des Gatestone Instituts.