Burak Bekdil, 26.12.2020, Gatestone Institute
aus dem Englischen von Daniel Heiniger
- Erdoğan sagte auch, dass er die Zukunft der Türkei in Europa sieht – das gleiche Europa, das er gerade als „Nazi-Überbleibsel und Faschisten“ beschuldigt hatte.
- Im Kern ging es darum, wie hart die EU bei Sanktionen vorgehen würde, während sich die türkische Volkswirtschaft im freien Fall befand. Die Brüsseler Entscheidung war, wie sich herausstellte: Nicht so hart.
- Juristisch gesehen ist der Mann, den Erdoğan als „Terrorist“ bezeichnete, ohne Gerichtsurteil nur ein Verdächtiger. Das aber ist Erdoğans krankes Verständnis von Verfassungsrechten: Er ist der gewählte Führer, also glaubt er, sich die Freiheit nehmen zu können, Verdächtige für schuldig oder nicht schuldig zu erklären, während ihre Gerichtsverfahren noch laufen.
Wenn der islamistische Machthaber der Türkei, Präsident Recep Tayyip Erdoğan, in der ersten Dezemberwoche mehr schlaflose Nächte verbracht hat als wegen seiner Sorgen über die US-Sanktionen, dann wegen der unmittelbar bevorstehenden und potenziell strafenden Sanktionen der Europäischen Union, die bei einem Gipfel am 10. und 11. Dezember Gestalt annehmen könnten. Er muss einen relativ ruhigen Schlaf gehabt haben, als der Gipfel vorbei war. Er könnte gedacht haben, dass er es geschafft hat, einer riesigen europäischen Sanktionsbombe zu entkommen, zumindest bis März. Es könnte jedoch etwas verfrüht sein, jetzt vor Erleichterung zu seufzen.
Nachdem die EU-Staats- und Regierungschefs die Türkei im Oktober unmissverständlich gewarnt hatten, entschied sich Erdoğan für eine Eskalation der Spannungen und brachte damit das, was sonst eine rein diplomatische Angelegenheit gewesen wäre, auf die Ebene eines Mini-Kampfes der Kulturen. Erdoğan kalkulierte, dass er bis zum letzten Moment den harten osmanischen Sultan spielen könnte und dass die EU es niemals wagen würde, ihre Brücken zur Türkei abzubrechen. Er hatte Recht und Unrecht. Er hat Zeit gekauft, die EU hat ihre Brücken nicht abgebrochen, die Sanktionen auf dem Dezember-Gipfel waren nicht stark genug, um den Kurs der Türkei zu ändern. Dennoch hat Erdoğan nun eine weitere Frist, bis zu der er sich zwischen einem weiteren Kampf der Kulturen und einer nachhaltigen Deeskalation entscheiden muss.
Kurz vor dem Dezembergipfel zog die Türkei ein Kohlenwasserstoff-Explorationsschiff aus den umstrittenen Gewässern des Mittelmeers zurück. Nachdem sie monatelang die von der EU unterstützten Explorationsbemühungen in Frage gestellt hatte, wurde das Vermessungsschiff Oruç Reis nach Hause geholt.
Darüber hinaus hat Ankara in einer Offensive voll falschem Charme eine pluralistische Rhetorik gegenüber den nicht-muslimischen Minderheiten des Landes entwickelt. „Religiöse Minderheiten sind der Reichtum unseres Landes, basierend auf dem Prinzip der gleichen Staatsbürgerschaft und der gemeinsamen Geschichte“, sagte Präsidentensprecher Ibrahim Kalın in einem Twitter-Posting. „Sie zu diskriminieren, würde die Türkei schwächen.“
Erdoğan sagte auch, dass er die Zukunft der Türkei in Europa sieht – im gleichen Europa, das er eben noch beschuldigt hatte, „Nazi-Überbleibsel und Faschisten“ zu sein.
Auf dem Tisch des Gipfels lag auch ein EU-weites Waffenembargo gegen die Türkei, wie es von Griechenland und Zypern hartnäckig gefordert wird. Anstatt sich für ein sofortiges Embargo zu entscheiden, so kündigte Bundeskanzlerin Angela Merkel an, würden die EU-Staats- und Regierungschefs die Themen mit Vertretern der NATO und der USA diskutieren. „Wir haben auch darüber gesprochen, dass Fragen der Rüstungsexporte innerhalb der NATO diskutiert werden müssen. Wir haben gesagt, dass wir uns mit der neuen US-Regierung über die Türkei abstimmen wollen“, sagte Merkel auf einer Pressekonferenz.
Die Frage eines Waffenembargos sei eben nicht der Kern der Sache gewesen. Im Jahr 2018 beliefen sich die gesamten EU-Waffenexporte in die Türkei auf vernachlässigbare 54 Millionen Dollar. Im Jahr 2019 haben mehrere waffenproduzierende Länder in der EU (Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Schweden, Finnland und die Niederlande) einzeln Waffenverkäufe an die Türkei gestoppt oder eingeschränkt.
Im Kern ging es darum, wie hart die EU bei Sanktionen vorgehen würde, während sich die türkische Volkswirtschaft im freien Fall befand. Wie sich herausstellte, entschied sich Brüssel für: Nicht so hart. Die EU-Staats- und Regierungschefs einigten sich darauf, Sanktionen gegen eine unbestimmte Anzahl türkischer Funktionäre und Unternehmen zu verhängen, die an Gasbohrungen in zypriotischen Gewässern beteiligt sind – aber sie verschoben die größeren Entscheidungen, wie z.B. Handelszölle, bis sie sich mit der kommenden US-Regierung des designierten Präsidenten Joe Biden beraten können.
Der Chef der EU-Außenpolitik, Josep Borrell, wird in den nächsten Wochen die Namen derjenigen bekannt geben, die mit Sanktionen rechnen müssen. Aber das wird nicht das Ende der Geschichte sein. Auf dem Dezembergipfel wurde Borrell beauftragt, bis März Vorschläge für eine breitere Herangehensweise an die Türkei vorzubereiten, um der EU Zeit zu geben, sich mit Bidens nationalem Sicherheitsteam zu beraten.
Dieses Zeitfenster verschafft Erdoğan eine kurze, vorübergehende Erleichterung. Bis Ende Februar wird er seine letzten Karten ausspielen müssen, bevor die EU die Sanktionen verschärft oder die Verschärfung um weitere drei Monate verschiebt. Diese Verschiebungen von härteren Sanktionen sind kein Gewinnspiel für Erdoğan, vor allem, wenn gleichzeitige US-amerikanische und europäische Sanktionen drohen, die die fragile Wirtschaft der Türkei weiter schwächen.
Das Problem ist, dass ein von Natur aus antiwestlicher, islamistischer Politiker, der seine Popularität weitgehend auf ständigen Konfrontationen mit anderen Nationen aufgebaut hat, sich nicht innerhalb von drei Monaten mental in einen friedlichen Partner verwandeln kann. Er ist auf jeden Fall nicht bereit, das grausame Demokratiedefizit seines Landes nicht weiter zu vergrößern. „Erwarten Sie nicht, dass ich diesen Terroristen belohne [indem ich ihn freilasse]“, sagte Erdoğan nur wenige Tage vor dem EU-Gipfel, als er von Selahattin Demirtaş sprach, dem inhaftierten Führer einer pro-kurdischen politischen Partei, die bei den letzten Wahlen über 10 % der nationalen Stimmen gewann.
Demirtaş sitzt seit 2016 zusammen mit 12 kurdischen Abgeordneten wegen Terrorismusvorwürfen in Untersuchungshaft und wartet auf seinen Prozess. Juristisch gesehen ist der Mann, den Erdoğan als „Terrorist“ bezeichnete, ohne Gerichtsurteil nur ein Verdächtiger. Das aber ist Erdoğans krankes Verständnis von Verfassungsrechten: Er ist der gewählte Führer, also glaubt er, sich die Freiheit nehmen zu können, Verdächtige für schuldig oder nicht schuldig zu erklären, während ihre Gerichtsverfahren noch laufen.
Um mehr Zeit im März zu kaufen, wird Erdoğan auch große Worte und Herausforderungen herunterschlucken müssen. Er wird die türkischen Kohlenwasserstoff-Explorationsaktivitäten im östlichen Mittelmeer stoppen, die Spannungen mit Griechenland und Zypern beenden und zu einer diplomatischen Sprache mit Europa wechseln müssen, einer Sprache, die keine Wörter wie Nazis, Faschisten und antimuslimische Rassisten enthalten wird.
Einige sehr harte Hausaufgaben warten auf den Schulhof-Rüpel.
Burak Bekdil, einer der führenden Journalisten der Türkei, wurde kürzlich nach 29 Jahren von der renommiertesten Zeitung des Landes gefeuert, weil er für Gatestone schrieb, was in der Türkei vor sich geht. Er ist ein Fellow beim Middle East Forum.
Erstveröffentlichung hier. Reproduktion mit freundlicher Genehmigung des Gatestone Instituts.