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Eine juristische und operationelle Beurteilung der israelischen Zielauswahlpraktiken

 und ,

Während 50 Tagen im Sommer 2014 führte die israelische Armee IDF eine hoch intensive Luft- und Bodenkampagne gegen die Hamas im Gazastreifen durch. Ausgelöst durch die Ermordung dreier israelischer Teenager durch Hamas-Militante, resultierte dieser kurze aber gewalttätige Konflikt in mehr als 2100 Toten auf palästinensischer Seite, sowie breiten Zerstörungen und Schäden an der zivilen Infrastruktur. Israel erlitt grob 70 Verluste während der Operation, einschliesslich Soldaten der IDF, die im Kampf getötet wurden, sowie israelische Zivilisten, die von den ungezielten Hamas-Raktenangriffen gegen israelische Bevölkerungszentren getroffen wurden, die auch einen grossen psychologischen Zoll auf seiten der terrorisierten israelischen Zivilisten forderte. Dieses letzte Kapitel in einer langen Saga des Konfliktes zwischen Israel und Hamas gibt eine weitere hervorstechende Lektion zu den Schrecken des Krieges, doch ebenso eine Gelegenheit, die Funktion des Gesetzes der Prinzipien des bewaffneten Konfliktes in der Praxis zu untersuchen.

Israel hat sich lange dagegen gewehrt, die Zielauswahlmethoden und sogar einige seiner spezifischen Standpunkte über das Gesetz des bewaffneten Konfliktes (LOAC, Law of armed conflict) herauszugeben, in der Befürchtung, dass dies seinen Gegnern einen operationellen Vorteil verschaffen und von den oft kritischen Partnern unter den Staaten und in der internationale-Menschenrechte-Gemeinschaft ausgenutzt werden könnte. Das ändert sich vielleicht. Kurz nach der Beendigung der offenen Feindseligkeiten haben uns die IDF nach Israel eingeladen, um seine Zielauswahlmethoden und die Anwendung des LOAC zu untersuchen. Wir besuchten das operationelle Hauptquartier der IDF (der Gaza-Division) und beobachteten seine Zielauswahl-Zellen; überprüften die Zielfindungsverfahren von Bodentruppen und Luftwaffe; studierten die Organisation, das Training, und die Methodik des Military Advocate General’s Corps, besuchten einen Hamas-Angriffstunnel; studierten Kampfvideos, einschliesslich die hier öffentlich publizierten; und interviewten IDF-Offiziere – sowohl juristische Berater als auch operativ tätige – auf verschiedenen Kommandoebenen.

Unser Ziel war nicht, die gerade beendete Kampagne zu beurteilen (Operation Protective Edge / Schutzrand), sondern vielmehr in die Zielführung der IDF im Allgemeinen einzutauchen aus der Perspektive des Individuums, das reale Zielfindungserfahrung und LOAC-Expertenwissen hat. Die Resultate dieser Forschung werden in zwei verwandten Berichten publiziert, einer für militärpolitisches Publikum, der andere in einem akademischen juristischen Journal.

Israelische Zielidentifikationspraktiken und Positionen zum LOAC sind generell innerhalb des Mainstreams zeitgenössischer staatlicherPraktiken, aber die Nuancen im israelischen Ansatz zur Zielfindung und zu LOAC können nur verständlich gemacht werden im Kontext der spezifischen operationellen und strategischen Umgebung, innerhalb derer die IDF kämpfen muss. Mehrere Schlüsselfaktoren informieren die IDF-Entscheidungsfindung in dieser Beziehung. Der erste ist der aussergewöhnliche Grad, zu dem sich die israelische Bevölkerung als „unter Belagerung“ sieht — Israel ist umgeben von Feinden, und beide seiner Hauptantagonisten (Hamas in Gaza und Hisbolla im Libanon) besitzen grosse Mengen an billigen, breit verfügbaren, und hoch unpräzisen Raketen, die sie regelmässig auf israelische Bevölkerungszentren abschiessen. Diese Raketen sind in der Lage, praktisch das ganze Land treffen zu können. Konsequenterweise hat die IDF grosse Investitionen geleistet, sowohl in defensive Massnahmen wie das System Iron Dome, und in seine Fähigkeiten, die Raketenarsenale seiner Gegner zu identifizieren, stoppen, und zu zerstören. In Begriffen des LOAC ausgedrückt, hat die Zerstörung von Raketen und Raketenabschussinfrastruktur (häufig in der Form von zivilen Häusern, die zu militärischem Gebrauch umgebaut wurden, um israelische Angriffe abzuschrecken) einen hohen Wert von „antizipatorischem militärischem Vorteil“, sodass das (aus Sicht der IDF) Stufen von kollateralem Schaden rechtfertigen kann, die Beobachtern von aussen als potentiell übertrieben erscheinen könnten.

Der zweite Faktor, der prominent den IDF-Ansatz zur Zielfindung beeinflusst, ist die akute Opferaversion in der israelischen Gesellschaft als ganzes, gekoppelt mit einer umfassenden Furcht, dass IDF-Soldaten gefangen genommen werden und dazu benutzt werden könnten, einen strategischen Vorteil gegen Israel zu gewinnen. Diese Realität führt zu krasser Erleichterung, wenn man die Konsternation berücksichtigt, mit der die US-Entscheidung begrüsst wurde, fünf Talibankämpfer für die Entlassung von Sgt. Bowe Bergdahl freizulassen. Im Vergleich entlässt Israel routinemässig hunderte und manchmal tausende gefangener Kämpfer für die Rückkehr gefangener IDF-Soldaten (oder ihrer Überreste) – und, anders als die Talibankämpfer im US-Austausch, ist es sicher, dass viele der von Israel entlassenen bald wieder in den Kampf zurückkehren. Der Unterschied in der Perspektive kann durch die Tatsache erklärt werden, dass ungleich der freiwilligen professionellen Armee der vereinigten Staaten, die IDF eine einberufene Armee ist; fast jede israelische Familie hat Geliebte, die konfrontiert waren, oder konfrontiert sind, oder konfrontiert sein werden, mit der Gefahr, im Kampf zu sterben oder gefangen genommen zu werden.

Weil die Hamas diese besondere Charakteristik ihres israelischen Feindes sehr gut versteht, setzt sie ein extensives Netzwerk von Infiltrationstunnels ein und maskiert ihre Kämpfer unter der zivilen Bevölkerung in der Nähe von israelischen Dörfern, im Versuch, isolierte IDF-Stellungen zu überraschen und zu überrennen. Deshalb legt die IDF hohe Priorität auf die Zerstörung der Tunnel und der Infrastruktur, die sie unterstützen, und ist bereit, aggressiv zu Boden und in der Luft vorzugehen, um Hamaskämpfer aus der zivilen Bevölkerung, in der sie sich verstecken, zu entwurzeln. Schläge auf Tunneleingänge, auf Zementwerke, von denen Israel sagt, dass sie für die Konstruktion der Tunnels benutzt werden, und auf die Hamas-Konzentrationen in zivilen Umgegungen führen manchmal dazu, dass Beobachter von aussen den Grad der Rücksichtnahme auf das Prinzip der Differenzierung und Proportionalität, sowie die Anforderung, den Angriff mit genügender Vorsicht anzugehen,  in Frage stellen.

Wir benutzen diesen operationellen und strategischen Kontext, um nachzuforschen, wie die IDF für den Kampf organisiert ist, wie Zielfindungsoperationen durchgeführt und kontrolliert werden, und wie das MAG positioniert ist, um juristischen Rat und Übersicht über militärische Operationen zu gewinnen. Die einzigartige und robuste Rolle israelischer Gerichte in Bezug auf laufende militärische Operationen wird geprüft, und IDF-Positionen zu Zielfindungsgesetzen werden katalogisiert und beurteilt. Letzteres beinhaltet, inter alia, die Analyse der israelischen Standpunkte zu: Zusätzliches Protokoll I als internationales Gewohnheitsrecht; Anwendung der Definition militärischer Ziele; direkte Teilnahme, freiwillige und unfreiwilliger menschlicher Schutzschilde, und das Konzept organisierter bewaffneter Gruppen; Platzierung von Kämpfern und militärischer Ziele unter Zivilpersonen und -objekten; die Wirkung von Ungewissheit und Zweifel beim Zielen; kontextuelle Anwendung der Proportionalitätsregel; und Vorsichtsregeln im Angriff, besonders die Warnung die kontroverse „aufs-Dach-klopfen“-Technik.

Grob gesagt war unsere Schlussfolgerung, dass die IDF-Positionen zu Zielfindungsgesetzen zu grossen Teilen denen des Militärs der USA entsprechen. Und sogar dort, wo sie sich unterscheiden, bleibt der israelische Ansatz innerhalb des Bereichts allgemein akzeptabler staatlicher Praktiken. Die IDF wird geführt von einem Corps von äusserst kompetenten und gut geschulten juristischen Beratern, die mit einem bemerkenswerten Grad an Autonomie arbeiten, und ihre Operationen unterliegen extensivem juristischem Monitoring. Während es sicherlich israelische juristische Positionen gibt, die strittig sind, so haben wir doch gefunden, dass ihr Ansatz zur Zielfindung konsistent ist mit dem Gesetz, und, in vielen Fällen, der Nachahmung wert ist.

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