Eine unsichtbare Grenze
Die verhasste Grenze mit ihren Zäunen, Mauern, Todesstreifen und Wachtürmen, die Deutsche von Deutschen trennte, ist weitgehend verschwunden. Es gibt nicht viele Zeitzeugen, die ihr eine Träne nachweinen. Und ganz sicher nicht dem untergegangenen System, das diese Monstrosität errichtet hat. Doch viele Menschen wünschen sich in diesen Tagen, man hätte den Stacheldraht und die Mienen nicht ganz so voreilig entsorgt (schließlich weiß man nie, wozu man das Zeug noch mal braucht).
Früher waren sich viele Freunde und Verwandte näher, obwohl sie sich nicht — oder nur einseitig — besuchen konnten. Heute sitzen sie mitunter am selben Tisch und sind doch unendlich weit voneinander entfernt. Die neue Grenze verläuft zwischen Eltern und Kindern, Geschwistern, Arbeitskollegen, quer durch Sportvereine, Betriebe, Kirchen, Schulen und Wohnzimmer. Sie ist effektiver als jede Sperranlage, denn heute ist jeder des anderen Grenzer. Wer gedanklich raus will aus dem sichersten Deutschland aller Zeiten, sollte sich besser am Hinterkopf Augen wachsen lassen!
Alles auf Anfang
Nach der Wiedervereinigung hat sich „der Westen“ als Sieger gefühlt (und aufgeführt). Und rein praktisch gesehen war er das wohl auch, zumindest vorläufig. Die soziale Marktwirtschaft hatte der verkorksten Planwirtschaft eine Nase gedreht, das Versprechen von Freiheit war dem vermeintlich goldenen (in Wahrheit rostigen) Käfig von Anfang an so haushoch überlegen, dass man Menschen jahrzehntelang einsperren und ermorden musste, um sie von ihrem Glück abzuhalten.
Wie das mit Siegern so ist, diktieren sie dann eben auch die Spielregeln. Die „Wiedervereinigung“ war kein Vertrag auf Augenhöhe, sie war kaum mehr als ein Anschluss; der Beitritt der ehemaligen DDR zum Staatsgebiet der BRD und ihres Grundgesetzes. Aus damaliger Perspektive war das (wohlwollend betrachtet) sicher eine pragmatische Herangehensweise und der kürzeste Weg zu den Bananen. Rückblickend betrachtet wurde damit der Grundstein für die aktuelle Krise gelegt.
Demokratie lernen
Gerne wurde, und zunehmend wieder wird, „den Ossis“ unterstellt, dass sie ein Demokratie-Defizit hätten. Meistens dann, wenn sie nicht so wählen, wie man es von ihnen erwartet. Nun mag das schon sein, dass man in 40 Jahren Diktatur die Demokratie und ihre Spielregeln nicht mit der Muttermilch aufsaugt. Vielleicht wissen die Menschen im Osten nicht, wie Demokratie geht. Sie wissen aber Eines sehr gut aus eigener Anschauung: Wie Demokratie nicht geht!
Beispielsweise wenn mehrere Parteien auf dem Wahlzettel stehen und es völlig Wurscht ist, welche man davon wählt. Weder ändern sich Personal noch Politik. Das ist nicht normal. Oder, wenn dann doch mal eine Alternative drauf steht, und diese mit staatlichen Mitteln bekämpft wird. Das ist auch nicht normal. Wenn Politiker zu ihren Arbeitgebern sprechen, als wären diese unmündige und undankbare Untertanen — auch das ist nicht normal. Oder, beispielsweise, wenn die meist gehasste Frau der Welt von den Chefredakteuren der Qualitätspresse einstimmig zur beliebtesten Deutschen aller Zeiten…
Heißt vom Osten lernen
Ehrlich, das ist nicht normal. Es sei denn, man findet die Türkei, Nordkorea oder irgendeine mittelmäßige Diktatur in der Dritten Welt „normal“. Ich weiß auch nicht, was es ist, aber bestenfalls die Karikatur einer Demokratie. Leider ist sie im Westen so langsam erodiert, wurden ihre Risse derart mit wirtschaftlichem Wohlstand zugespachtelt, dass die meisten alteingesessenen Demokratie-Versteher sich strikt weigern, überhaupt das Problem anzuerkennen. Diese angeborene Sensibilität für Diskrepanzen zwischen Realität und verkündeter Wahrheit geht „den Wessis“ irgendwie völlig ab.
Man hätte diesen Geburtsfehler der neuen, größeren Bundesrepublik durchaus vermeiden können, wenn man anerkannt hätte, welche Erfahrungen die Ostdeutschen mitbrachten. Die waren gewissermaßen wertvoller als Gold. 40 Jahre Diktatur, noch dazu friedlich wegrevolutioniert — das ist eine gute Impfung gegen totalitäre Tendenzen! Die beiden deutschen Völker hätten sich auf dieser Grundlage eine gemeinsame Verfassung geben müssen, die auch das (in großen Teilen ziemlich gute!) Grundgesetz daraufhin kritisch prüft, ob es den selbst gestellten Ansprüchen noch genügt.
Hätte, hätte, Fahrradkette
Nun ist es müßig, über vertane Chancen zu spekulieren. Die tatsächliche Entwicklung ist anderswo abgebogen, ohne vorher zu blinken. Kohl hat uns mit den „blühenden Landschaften“ verarscht. Stattdessen kamen Glücksritter und drittklassige Beamte, die die Landschaften derart gründlich abgeräumt haben, dass da erst mal ausreichend Platz zum Blühen war. Im Gegenzug wurde eine mittelmäßige FDJ-Sekretärin ins Kanzleramt geschmuggelt, die den Klassenfeind von innen heraus zersetzt und mit Hilfe einer linken Einheitsfront zermürbt hat. Honeckers postume Rache. Sind wir jetzt quitt?
Da sitzen wir nun, wir Deutschen, die hier schon länger leben, die noch nicht so lange hier leben und „ein paar“, von denen keiner so genau weiß, woher sie kommen, wie oft sie wollen und wann sie wieder gehen. Das ist unser Land, mit all seinen Ecken und Kanten, seiner glanzvollen Geschichte und den schlimmsten Verbrechen, die Menschen einander antun können. Wir haben kein anderes. Was immer auch schief gelaufen ist, es ist Vergangenheit. Hier und jetzt, genau in diesem Moment, fängt die Zukunft an. Wie sie aussieht, das hängt von Dir ab.
Wohin geht die Reise?
29 Jahre nach dem Mauerfall und 28 Jahre nach der deutschen Einheit stehen die Deutschen (wieder mal) an einem historischen Scheideweg. Wir können (wieder mal) ein isoliertes und gehasstes Land in Europa sein, in dem man Angst hat, frei zu denken, frei zu reden und frei zu wählen. Ob die offizielle Glaubenslehre dabei von der Tagesschau oder vom Minarett herunter verkündet wird, ist im Grunde egal. Wir können ein Land sein, das Abweichler bestraft und Dissidenten verfolgt. Ein Land, in dem anders aussehende Menschen misstrauisch beäugt werden, weil man nicht mehr weiß, wem man trauen kann. Wir können das „Land ohne Kultur“ sein, in dem sich (zurecht) niemand integrieren will, in dem gleiches Recht vor dem Gesetz nur noch theoretisch herrscht, in dem es am Ende nur heißt: Jeder schaut, wo er bleibt, jeder gegen jeden.
Wir könnten uns zur Abwechslung aber auch mal nicht dämlich anstellen! Wir könnten diesen Feiertag zu mehr nutzen, als nur Fähnchen schwenken und schwülstige Reden halten. Es wird in den nächsten Monaten noch sehr ungemütlich, wenn sich das scheidende Regime mit letzter Kraft an die Macht klammert. Viele Menschen werden dann aufwachen, wenn es zu spät ist, wenn sie selbst unter die Räder kommen, und sei es nur als Kollateralschaden. Manche nicht mal dann. Daher meine dringende Bitte: Redet miteinander! Man muss sich da auch nicht zwangsläufig einig werden, aber es hasst sich viel schöner, wenn man weiß, wofür (wirklich)! Außerdem weiß man nie, wer morgen noch da ist…
Ich bin zwar etwas skeptisch, was historische Parallelen angeht, aber ich mag runde Daten. 30 Jahre Wende nächstes Jahr und 30 Jahre vereinigtes Deutschland in 2020 sind eigentlich zu schade, um daraus nicht den schlimmsten Alptraum von Merkel, Juncker und Konsorten zu machen: Ein in Freiheit geeintes, selbstbestimmtes Volk, das endlich zusammenwächst und sein Schicksal in die eigenen Hände nimmt. Wann, wenn nicht jetzt.