Ist Toleranz eine Einbahnstraße?
Douglas Murray, 16.1.2017, Gatestone Institute
- Wenn so gut wie jedes andere Magazin der freien Welt die Werte der freien Meinungsäußerung und das Recht der Karikatur, zu beleidigen, nicht verteidigt, wer könnte dann von einer Gruppe von Karikaturisten und Schriftstellern, die bereits einen so hohen Preis bezahlt haben, erwarten, diese Freiheitswerte alleine hochzuhalten?
- Die meisten Leute, die sagten, dass sie sich um das Recht kümmern würden, zu sagen, was sie wollen, wann immer sie wollen, waren bereit, den Gang zu machen – und mit einem Bleistift in der Luft durch Paris zu laufen. Oder sie waren bereit, den Vortrag zu halten und zu verkündeten „Je Suis Charlie“. Aber fast niemand hat es wirklich so gemeint.
- Wenn Präsident Hollande und Bundeskanzlerin Merkel wirklich daran geglaubt hätten, sich für die freie Meinungsäußerung einzusetzen, dann hätten sie statt Arm-in-Arm durch Paris zu laufen, zusammen mit einer solch unangemessenen Figur wie dem Palästinenserführer Mahmoud Abbas, Titelblätter von Charlie Hebdo in die Höhe gehalten und gesagt: „So sieht eine freie Gesellschaft aus, und das ist es, zu dem wir stehen: Jedermann, politische Führer, Götter, Propheten, alles kann satirisiert werden, und wenn dir das nicht passt, dann kannst du in das unerleuchtete Höllenloch springen, von dem du nachts träumst.“
- Die gesamte Weltpresse hat verinnerlicht, was bei Charlie Hebdo passiert ist, und anstatt einig sich dagegen zu stellen, hat sie sich entschlossen, niemals zu riskieren, dass ihnen so etwas je wieder passiert.
- Über die letzten zwei Jahre haben wir mit Bestimmtheit gelernt, dass eine solche Toleranz eine Einbahnstraße ist. Diese neue Unterwerfung unter den islamistischen Terrorismus ist vielleicht der Grund, warum im Jahr 2016, als ein Athlet ohne Beteiligung an Politik, Religion oder Satire dabei erwischt wurde, etwas zu tun, das als nicht ganz respektvoll gegenüber dem Islam angesehen werden konnte, niemand da war, um ihn zu verteidigen.
Der 7. dieses Monats markierte zwei Jahre seit dem Tag, an dem zwei Männer mit Gewehren in die Büros der Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris marschierten und zwölf Leute ermordeten. Dieser Zeitraum markiert daher auch den zweiten Jahrestag der Zeitspanne von etwa einer Stunde, in der sich ein Großteil der freien Welt als „Charlie“ proklamierte und, durch das Gehen durch die Straßen, einer Schweigeminute, oder durch Wiederholung des Hashtags #JeSuisCharlie, der ganzen Welt zu zeigen versuchte, dass Freiheit nicht unterdrückt werden kann und dass die Feder mächtiger ist als die Kalaschnikow.
Zwei Jahre später sind ein guter Zeitpunkt, eine Bestandesaufnahme der Situation vorzunehmen. Wie erging es uns? Haben sich all diese „Je-Suis“-Ansagen zu mehr als einem Blip in der Twitter-Sphäre summiert? Jedermann, der versucht, eine solche Frage zu beantworten, könnte damit anfangen, den Zustand der Zeitschrift zu betrachten, um die jeder so besorgt war. Wie ist es ihr in den zwei Jahren ergangen, seit die meisten ihrer leitenden Redakteure von der Blasphemie-Polizei niedergeschossen wurden?
Nicht gut, wenn ein Test für das Wohlbefinden des Magazins ist, ob sie bereit wäre, das „Verbrechen“ zu wiederholen, für das es angegriffen wurde. Sechs Monate nach der Schlachterei, im Juli 2015, gab der neue Herausgeber der Publikation, Laurent Sourisseau, bekannt, dass Charlie Hebdo keine Darstellungen des Propheten des Islam mehr veröffentlichen würde. Charlie Hebdo hatte, wie er sagte, „seine Arbeit getan“ und „das Recht auf Karikatur verteidigt.“ Es hatte weitere Mohammed-Karikaturen in der Ausgabe unmittelbar nach dem Massenmord in ihren Büros veröffentlicht und seitdem. Aber, sagte er, sie brauchten das nicht weiter zu tun. Nur wenige Menschen hätten ihn und seine Kollegen für eine solche Entscheidung kritisiert. Wenn so gut wie jedes andere Magazin in der freien Welt die Werte der freien Meinungsäußerung und das Recht der Karikatur, zu beleidigen, nicht verteidigt, wer könnte dann von einer Gruppe von Karikaturisten und Schriftstellern, die bereits einen so hohen Preis bezahlt haben, erwarten, diese Freiheitswerte alleine hochzuhalten?
Jetzt, am zweiten Jahrestag der Gräueltat, hat eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des Magazins, Zineb El Rhazoui, angekündigt, dass sie das Magazin verlässt. El Rhazoui, die wegen des Sicherheitsdispositivs, das sie vom französischen Staat erhält, als „die am meisten geschützte Frau in Frankreich“ bezeichnet wurde, hat angekündigt, dass Charlie Hebdo gegenüber dem islamischen Radikalismus „weich“ geworden sei. Sie sagte Agence France-Presse, dass „Charlie Hebdo am [7. Januar 2015] starb.“ Die Zeitschrift hatte zuvor eine „Fähigkeit, die Fackel der Ehrfurcht und der absoluten Freiheit zu tragen“, sagte sie. „Freiheit um jeden Preis ist, was ich an Charlie Hebdo liebte, wo ich trotz großer Widrigkeiten gearbeitet habe.“
Natürlich ist El Rhazoui eine ungewöhnliche Person. Und ein seltener Mensch im einundzwanzigsten Jahrhundert Europas. Deshalb braucht sie das Sicherheitsdispositiv. Die meisten Leute, die sagten, dass sie sich um das Recht kümmern würden, zu sagen, was sie wollen, wann immer sie wollen, waren bereit, den Gang zu gehen – und mit einem Bleistift in der Luft durch Paris zu laufen. Oder sie waren bereit, den Vortrag zu halten und zu verkündeten „Je Suis Charlie“. Aber fast niemand hat es wirklich gemeint. Wenn sie es so gemeint hätten, dann wären die Menschenmassen – wie Mark Steyn hinwies – in Paris nicht mit Bleistiften durch die Straßen gelaufen, sondern mit Cartoons von Mohammed. „Ihr werdet uns alle holen müssen“, wäre die Botschaft gewesen.
Und dito die Führer. Wenn Präsident Hollande und Bundeskanzlerin Merkel wirklich daran geglaubt hätten, sich für die freie Meinungsäußerung einzusetzen, dann hätten sie statt Arm-in-Arm durch Paris zu laufen, zusammen mit einer solch unangemessenen Figur wie dem Palästinenserführer Mahmoud Abbas, Titelblätter von Charlie Hebdo in die Höhe gehalten und gesagt: „So sieht eine freie Gesellschaft aus, und das ist es, zu dem wir stehen: Jedermann, politische Führer, Götter, Propheten, alles kann satirisiert werden, und wenn dir das nicht passt, dann kannst du in das unerleuchtete Höllenloch springen, von dem du nachts träumst. Aber Europa ist kein Kontinent für dich.“
Stattdessen wurde die europäische Gesellschaft in den zwei Jahren seit diesen Gesten still. Natürlich gab es regelmäßige Gelegenheiten, die moderne Idee der Tugend vorzuzeigen, die oft mit Charlie Hebdo als Punching-Bag einher ging. Seitdem sie durch die Schützen auf die Existenz der Zeitschrift aufmerksam geworden sind, senden die Zensur-Typen, die unsere Gesellschaften jetzt füllen (und die vermutlich überhaupt keine Zeitschriften kaufen oder lesen), nichtsdestotrotz regelmäßig Botschaften auf sozialen Medien aus, die gegen die Dinge protestieren, auf die sie im Magazin hingewiesen wurden.
Und so kommt es, dass eine unhöfliche und satirische Zeitschrift wiederholt von der humorlosen Moralpolizei unserer Zeit beurteilt worden ist und oft als unzureichend ehrfürchtig bezüglich verschiedener Weltereignisse betrachtet wird. Ein Charlie Hebdo-Cartoon über die Kölner Silvester-Sexualangriffe galt als schlechter Geschmack. Anderswo hat die Reaktion der Publikation auf ein Erdbeben in Italien nicht die einzige akzeptable Note in den Augen einiger Nicht-Leser getroffen. Ebenso der Absturz eines russischen Jets und andere Storys, die als unangemessen pietätlos angesehen wurden.
Mittlerweile befinden wir uns in einer Situation, wie der britische Autor Kenan Malik von der Zeit nach der satanische-Verse-Affäre sagte, wo wir die Gräueltat „internalisiert“ haben. Die gesamte Weltpresse – vielleicht vor allem in den freien Ländern – hat verinnerlicht, was bei Charlie Hebdo passiert ist, und anstatt einig sich dagegen zu stellen, hat sie sich entschlossen, niemals zu riskieren, dass ihnen so etwas je wieder passiert. Diese neue Unterwerfung unter den islamistischen Terrorismus ist vielleicht der Grund, warum im Jahr 2016, als ein Athlet ohne Beteiligung an Politik, Religion oder Satire dabei erwischt wurde, etwas zu tun, das als nicht ganz respektvoll gegenüber dem Islam angesehen werden konnte, niemand da war, ihn zu verteidigen. Sogar die britische Premierministerin Theresa May, im Unterhaus darum gebeten, sich für das Recht eines Athleten einzusetzen, dass seine Karriere nicht durch einen flüchtigen, betrunkenen Witz zerstört wird, antwortete ausweichend:
„Das ist ein Gleichgewicht, das wir finden müssen. Wir legen Wert auf Ausdrucks- und Meinungsfreiheit in diesem Land – das ist absolut notwendig, um unsere Demokratie zu untermauern.
„Aber wir schätzen auch die Toleranz gegenüber anderen, und wir legen auch Wert auf die Toleranz gegenüber den Religionen. Das ist eines der Themen, das wir in der von der Regierung produzierten Anti-Extremismus-Strategie angeschaut haben.
„Ich denke, wir müssen dafür sorgen, dass es ja richtig ist, dass die Menschen die freie Meinungsäußerung haben können, aber in dessen Ausübung hat dieses Recht auch eine Verantwortung – und das ist die Verantwortung, die Bedeutung der Toleranz für andere zu erkennen.“
Über die letzten beiden Jahre haben wir mit Bestimmtheit gelernt, dass eine solche Toleranz eine Einbahnstraße ist. Unsere Gesellschaften waren am Aufwachen. Doch dann kam die Kalaschnikow-Brigade aus der anderen Richtung, die nur einmal schießen mußte; Angesichts dessen entschied sich die ganze zivilisierte Welt, sich umzudrehen und sich in die andere Richtung zurückzuziehen. Allahs Blasphemiepolizei wäre dumm, in den kommenden Monaten und Jahren den Vorteil nicht auszunutzen, die diese Kapitulation ihrer Sache verleiht.
Douglas Murray, britischer Autor, Kommentator und Analysator öffentlicher Angelegenheiten, lebt in London, England.
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Erstveröffentlichung hier. Reproduktion mit freundlicher Genehmigung des Gatestone Instituts.
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