Coronavirus, Arzt aus Bergamo: „In Krankenhäusern sind wir wie im Krieg. Ich sage allen: ‚Bleibt zu Hause'“
Christian Salaroli, Wiederbelebungsanästhesist in Bergamo: „Es wird je nach Alter und Gesundheitszustand entschieden. Einige von uns, ob als Erstversorger oder Kinder, kommen zerschmettert daraus hervor… Bleiben Sie zu Hause. Ich sehe zu viele Menschen auf der Straße“.
Marco Imarisio, 9.3.2020, corriere.it
aus dem Italienischen von Eva Maria Michels
„Im Inneren der Notaufnahme wurde ein großer Raum mit zwanzig Betten eröffnet, der nur für Massenveranstaltungen genutzt wird. Wir nennen es Pemaf, das ist ein Notfallplan für den Maximalen Zufluss. Hier wird die Triage oder die Wahl getroffen“.
Es ist kein einfaches Gespräch, das mit Christian Salaroli, 48 Jahre alt, Frau, zwei Kinder, medizinischer Leiter, Anästhesist und Wiederbelebungsarzt des Papst-Johannes-XXIII-Krankenhauses in Bergamo, eines der gefragtesten dieser Wochen, nur sieben Kilometer vom Alzano-Lombardo-Cluster entfernt, einem der geheimnisvollsten und hartnäckigsten dieser Epidemie. Nicht wegen des Themas, das es behandelt, nicht wegen der Emotionen, die uns durchdringen, die wir beiseite legen müssen, auch wenn es viel darüber aussagt, was dort geschieht, wo wir wirklich damit kämpfen. „Es wird nach Alter und Gesundheit entschieden. Wie in allen Kriegssituationen. Das sage nicht ich, sondern die Handbücher, nach denen wir studiert haben“.
Sie treffen also wirklich eine Auswahl?
Selbstverständlich. In diese Einheit werden nur Personen aufgenommen, die wegen der COVID19 Lungenentzündung mit respiratorischer Insuffizienz haben. Die anderen : ab nach Hause !
Was geschieht dann?
Sie bekommen nicht-invasive Beatmung. Das ist die erste Etappe.
Was sind die folgenden?
Früh morgens kommt der Narkosearzt zusammen mit dem Pflegepersonal der Notaufnahme. Seine Meinung ist entscheidend.
Weshalb ist seine Entscheidung so wichtig?
Neben dem Alter und dem allgemeinen Zustand bewertet er die Fähigkeit des Patienten, einen Eingriff zur invasiven Beatmung zu überleben.
Was heisst das genau?
Die Infektion, die der Coronavirus verursacht, ist eine interstitielle Pneumonie. Eine sehr aggressive Form, die die Versorgung des Blutes mit Sauerstoff brutal behindert. Die am stärksten angegriffenen Patienten leiden unter Sauerstoffmangel : Sie haben nicht mehr genug Sauerstoff im Organismus.
Wann wird die Wahl getroffen?
Sofort nach dem Besuch des Narkosearztes. Wir müssen diese Wahl treffen. Maximal ein oder zwei Tage nach der Aufnahme. Die nicht-invasive Beatmnung ist nur ein Zwischenschritt. Leider gibt es ein Missverhältnis zwischen den Krankenhausmitteln, den zur Verfügung stehenden Betten auf der Intensivstation und der Anzahl der Kranken in einem kritischen Zustand. Wir können nicht jeden intubieren, [d. h das Beatmungsschlauch wird nach einem Einschnitt in die Luftröhre direkt an diese angeschlossen, invasive Beatmung].
Was geschieht in diesem Moment?
Diejenigen, für die wir entschieden haben, dass die Pflege fortgeführt wird, werden sofort intubiert. Wir legen sie auf den Bauch, um die Belüftung der unteren Lunge zu erleichtern.
Bezüglich der Entscheidung, gibt es eine schriftliche Regel?
Aktuell, im Gegensatz zu dem, was ich lese, nein. In der Realität, auch wenn es schrecklich klingt, dies zu sagen, begutachten wir sehr genau die Kranken, die auch schwere kardio-respiratorische Krankheiten haben und die Personen mit schweren Herzkranzproblemen, weil sie sehr schlecht einen akuten Sauerstoffmangel vertragen und wenig Chancen haben, die kritische Phase zu überleben.
Und dann?
Wenn jemand zwischen 80 und 95 Jahre alt ist und grosse Atemprobleme hat, führen wir in der Regel die Behandlung nicht fort. Das gleiche gilt, wenn eine mit dem Virus infizierte Person eine Insuffizienz in drei oder mehr lebenswichtigen Organen aufweist. Diese Personen haben statistisch gesehen keine Chancen, das kritische Stadium der Infektion zu überleben. Diese Personen werden bereits als tot angesehen.
Sie schicken sie also weg?
Das auch, das ist ein schrecklicher Satz, aber die Antwort lautet ja. Wir haben nicht die Möglichkeiten das zu versuchen, was man gewöhlich ein Wunder nennt. Auch das ist die traurige Realität.
Normalerweise ist das nicht der Fall?
Nein. In normalen Zeiten gibt es auch eine Beurteilung, um zu wissen, ob ein Mensch einen Hauch einer Überlebenschance bei einem Eingriff hat. Aber jetzt haben wir es mit einer ganz anderen Anzahl von Fällen zu tun.
Und Sie als Ärzte, ertragen Sie diese Situation gut?
Einige von uns gehen daran kaputt. Vor allem die Jüngsten, die ganz Jungen, die gerade erst ihre Arbeit begonnen haben und nun plötzlich von jetzt auf nichts über die Frage nach dem Leben und dem Tod eines Menschen entscheiden müssen.
Und Sie?
Bis jetzt schaffe ich es noch, nachts zu schlafen. Weil ich weiss, dass die Auswahl auf der Hypothese beruht, dass einige Fälle, fast immer die Jüngeren, bessere Überlebenschancen haben als andere. Wenigstens das tröstet.
Was denken Sie von den letzten Entscheidungen, die die Regierung getroffen hat ?
Eine Quarantäne, um den Virus auf bestimmte Zonen zu begrenzen, ist eine gute Idee. Aber es ist eine Massnahme, die mit zwei Wochen Verspätung kommt. Das wichtigste ist eh woanders.
Das heisst?
Bleibt zu Hause, bleibt zu Hause, bleibt zu Hause. Ich kann es nicht genug wiederholen. Ich sehe zu viele Leute, die auf der Strasse spazieren gehen als sei nichts.
Sie haben nicht die geringste Idee davon, was sich in den Krankenhäusern abspielt und Sie wollen es nicht wissen. Bleiben Sie zu Hause.
Fehlt Ihnen Personal?
Ja. Wir arbeiten fast 24h und sind erschöpft. Körperlich aber auch emotional. Ich habe Krankenschwestern weinen sehen, die 30 Jahre Berufserfahrung haben, Ärzte erleiden einen Nervenzusammenbruch. Keiner kann sich vorstellen, was gegenwärtig in den Krankenhäusern geschieht. Aus diesem Grunde habe ich dieses Interview akzeptiert.
Gibt es noch ein Recht auf Behandlung?
Gegenwärtig ist es dadurch bedroht, dass man nicht gleichzeitig eine gewöhnliche Situation und eine Ausnahmesituation managen kann. Die Standartbehandlungen können sich verzögern und das kann schlimme Folgen haben.
Können Sie ein Beispiel geben?
Normalerweise wird ein Anruf wegen eines Herzinfaktes innerhalb von Minuten geregelt. Heute muss man eine Stunde und länger warten.
Haben Sie eine Erklärung für all dies?
Ich bevorzuge es, nicht danach zu suchen. Ich sage mir, dass es so ist wie die Kriegschirurgie. Man rettet nur noch diejenigen, die eine Chance haben. Genau dies geschieht gegenwärtig.
Hallo, darf ich den Artikel bzw. die Übersetzung teilen.
Es ist mir leider nicht gelungen, den deutschen Text zu posten.
Denke aber, das ist so wichtig und sollte darum von allen gelesen werden.
LG Christina Fittkau
Mit Hinweis und Link auf die Quelle dürfen Sie das selbstverständlich teilen, ja.
Vielen Dank für das Interwiev, so schrecklich der Inhalt auch ist. Aber jetzt habe ich zumindest eine Ahnung, warum diese Infektion so gefährlich ist. Ich bin Dankbar dem Arzt für seine Ehrlichkeit. In der deutschen Presse fand ich – zumindest bis jetzt – nichts Ähnliches. Ich lese natürlich nicht sämtliche deutsche Zeitungen, aber viele doch, und zwar regelmäßg. Vor allem die überregionalen wie FAZ, SZ, Die Welt, Spiegel, Tagesspiegel, FR usw Dazu die österreichische und die schweizerische, wie Standard, Die Presse, wie die NZZ, die Weltwoche, Bis ich dieses Interwiev gelesen habe, verstand ich nie, warum mir das Geschriebene so hysterisch vorkommt, wo doch es nur eine neue Art von der jährlichen Grippe ist. Aber jetzt verstehe ich es. Ob beabsichtigst oder nicht, die Erkrankung wird „verniedlicht“, ich nehme an, damit es keine Panik aufkommt. Bei mir löst ein solches Verhalten aus, daß ich den Printmedien noch weniger glauben werde als bis jetzt. Bis jetzt bezog sich das nur auf Artikel, Berichte über alles, was mit Politik im weitem Sinn zu tun hat. Jetzt weiß ich, daß ich auch anderes nicht glauben kann und soll.
lg
caruso