Die Linke und die Juden: Zeit, unser Verhältnis zu überdenken
Alan Johnson, 9. November 2015, Fathom Journal.org
Eine kürzere Version dieser Rede wurde als Beitrag zu einer Podiumsdiskussion zum Thema „Die Linke und Juden im Grossbritannien von heute am Pears-Institut zur Erforschung des Antisemitismus, Birkbeck, am 3. November 2015 gehalten. Die anderen Redner waren Lesley Klaff von der Sheffield Hallam University und UK Rechtsanwälte für Israel; David Rosenberg der jüdischen sozialdemokratischen Fraktion und Juden für Jeremy und Nadia Valman der Queen Mary, University of London und unabhängige jüdische Stimmen. Um die ganze Podiumsdiskussion anzuhören, gehen Sie zum Podcast auf der Website des Pears-Instituts.
Wenn wir von den Juden und den britischen Linken sprechen, dann sprechen wir von einem Verhältnis, das in einer Krise steckt. Unsere Fragen heute Abend: Was ging schief? Kann es gerettet werden?
Lassen Sie mich mit ein paar Vorbemerkungen beginnen.
Zunächst kann ich besser über die Linke als über die Juden sprechen. Obwohl ich wahrscheinlich mehr Zeit mit Juden und in Synagogen verbringe als viele in diesem Raum, bin ich nicht jüdisch. Doch ich bin ein Linker, und war das seit den späten 70er Jahren, als ich als Teenager Freiwilliger war in der radikalen Buchhandlung Days of Hope in Newcastle (oder Haze of Dope, wie manche sie nannten).
Zweitens glaube ich nicht, dass die Linke Grossbritanniens unkritisch sein sollte bezüglich der israelischen Politik. Die Linke in Israel ist es nicht, warum also sollten wir?
Drittens, trotz einiger jüngster ‚Umfragen‘ und Schlagzeilen, glaube ich nicht, dass britische Juden kurz davor sind, sich in ihren Kellern zu verstecken.
Profis, die mit Antisemitismus zu tun haben, sehen nicht eine Welle des populären Antisemitismus, sondern drei verschiedene politische Antisemitismen; bei der schwindenden Rechtsaussen; bei Teilen – ich betone Teilen – der britischen muslimischen Gemeinde; und bei Teilen – noch einmal, ich betone Teilen – der Linken.
Es ist dieser Strang der unverwechselbar linken Feindseligkeit gegenüber Juden, über die ich heute Abend ein paar Bemerkungen machen möchte. Es war noch nie der dominierende Meinungsstrang der Linken gewesen, und er ist es auch heute nicht; bei weitem nicht. Doch es hat ihn immer gegeben, er wächst noch heute, und er muss Bestandteil jeder Betrachtung bezüglich des Zusammenbruchs des Verhältnisses zwischen Juden und Linken sein.
Im 19. Jahrhundert nannte man es den ‘Sozialismus der Narren’.
Im 20. Jahrhundert wurde es zum ‘Anti-Imperialismus der Idioten’.
Und es hat die Form einer wilden, verrückten, gestörten Form des Antizionismus angenommen – keine blosse ‘Kritik an der israelischen Politik’ – die Israel im 21. Jahrhundert dämonisiert.
Der Sozialismus der Narren
Beginnen wir mit einem kurzen „Wer hat’s gesagt?“-Quiz.
Wer gesagt: „Die ganze jüdische Welt bildet eine ausbeuterische Sekte, ein Volk von Blutegeln, ein einzelner Parasit, eng und innig miteinander nicht nur über nationale Grenzen hinweg verbunden, sondern auch über alle Abweichungen von der politischen Überzeugung.‘? Das war der Anarchist aus dem 19. Jahrhundert, Michail Bakunin.
Wer schrieb: „Wer immer gegen jüdisches Kapital kämpft … ist schon ein Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht weiss … Schlagt die jüdischen Kapitalisten, hängt sie von Laternenmasten!“? Das war die Kommunistin Ruth Fischer, eine führende Persönlichkeit der deutschen Kommunistischen Partei in den frühen 1920er Jahren.
Wer sagte; „Überall dort, wo es in Europa Probleme gibt, wo Kriegsgerüchte zirkulieren und die Menschen verzweifelt sind aus Angst vor Veränderung und Unglück, können Sie sicher sein, dass eine Hakennase Rothschild seine Spiele irgendwo in der Nähe der Region der Störungen spielt.“ Nun, das war ein Leitartikel in The Labour Leader, dem Organ der Independent Labour Party (ILP) im Jahre 1891.
Ich könnte weitermachen. Glauben Sie mir, diese Zitate sind keine Aberrationen. Lesen Sie Steve Cohens bahnbrechende Arbeit, That’s Funny, You Don’t Look Antisemitic, über die ganze traurige Geschichte des linken Antisemitismus. (Sie ist verfügbar auf der Engage-Website.)
Aber das ist altes Zeug, sagen Sie vielleicht, wie wäre es mit heute?
Nun, linker Antisemitismus ging nie weg. Es wurde zum „Anti-Imperialismus von Idioten“ im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, als bösartige, gut finanzierte und lang andauernde antizionistische Kampagnen von den stalinistischen Staaten durchgeführt wurden, im Verbund mit den autoritären arabischen Staaten und Teilen der westlichen neuen Linken.
Diese Kampagnen legten den Grundstein für die Art des heutigen linken Antisemitismus – ich nenne es antisemitischen Antizionismus.
Antisemitischer Antizionismus biegt die Bedeutung Israels und des Zionismus so weit, bis beide passende Gefässe werden für die Vergleiche, Bilder und Ideen des klassischen Antisemitismus. Kurz gesagt, was einst der dämonologische Jude war, ist jetzt das dämonologische Israel: eindeutig böswillig, voller Blutdurst, alles kontrollierend, die verborgene Hand, tricksend, immer bösgläubig, das Hindernis für eine bessere, reinere, spirituellere Welt, eindeutig strafwürdig, und so weiter.
Antisemitischer Antizionismus besteht aus drei Komponenten: einem Programm, einem Diskurs, und einer Bewegung.
Erstens hat antisemitischer Antizionismus ein politisches Programm: nicht zwei Staaten für zwei Völker, sondern die Abschaffung des jüdischen Heimatlandes; nicht Palästina neben Israel, Palästina anstelle von Israel.
Zweitens ist antisemitischer Antizionismus ein dämonisierender intellektueller Diskurs (wie ich in meinem Kapitel in Gabe Brahms und Cary Nelsons Buch, Das Argument gegen akademische Boykotte Israels darlege). Die Linke sperrt sich selbst ein in ein verzerrendes System von Begriffen: „Zionismus ist Rassismus“; Israel ist ein „Siedler-kolonialistischer Staat“, der die „Einheimischen“ Menschen „ethnisch gesäubert“ hat, einen „Apartheidstaat“ aufbaute und nun in einen „inkrementellen Völkermord“ gegen die Palästinenser engagiert ist.
Und dann ist da das hässliche Phänomen der Holocaust-Inversion – die absichtliche und systematische Nazifizierung Israels auf Strassentransparenten, die Netanyahu als Hitler darstellen, auf Postern, die die IDF und die SS gleichsetzen, die in Cartoons Israelis als Nazis porträtieren, und sogar in der Sprache der Intellektuellen.
Drittens ist antisemitischer Antizionismus eine Präsenz in einer globalen sozialen Bewegung (der Boykott, Divestment und Sanktionen oder BDS-Bewegung), um einen Staat – und nur einen Staat – vom wirtschaftlichen, kulturellen und pädagogischen Leben der Menschheit auszuschliessen: den kleinen jüdischen Staat.
Und das ist die eigentliche Sorge betreffs Jeremy Corbyn. Nicht, dass er selbst dem Antisemitismus frönt, sondern dass er eine Akte hat darüber, wie er dem Antisemitismus von anderen frönt, wenn es darum geht, ein „Israel“-Abzeichen zu tragen. Und in diesen Tagen, ist das fast immer der Fall.
Zum Beispiel verteidigte Corbyn den üblen antisemitischen palästinensischen Islamisten Raed Saleh. Selbst als Salehs mörderischer Judenhass eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse wurde (die, zur Hölle, sogar gerichtskundig war), nannte Corbyn Saleh „einen Ehrenbürger, der sein Volk sehr gut repräsentiert“ und lud ihn zum Tee ein auf der Terrasse des House of Commons. Wohlgemerkt, nicht viele Linke konnten sich erheben, um Saleh zu widersprechen. Mehdi Hassan, damals der politische Herausgeber von The New Statesman, argumentierte, dass die Kritik an Saleh ein Beispiel sei für die „bequeme und vereinfachende Dämonisierung der Muslime“ durch die Medien.
Heute ist Frühling für linken antisemitischen Antizionismus.
Wir haben einen linken Dichter, Tom Paulin, der die israelischen Streitkräfte mit der Nazi-SS vergleicht.
Wir haben einen linken Vikar der anglikanischen Kirche, Pfarrer Stephen Sizer, der sich auf einen Artikel bezieht, der sagt, die Juden hätten 9/11 ausgeführt, und dann sagt, was auch immer, beweist erst mal, dass sie es nicht getan haben.
Wir haben einen linken Komiker, Alexei Sayle, der den Witz macht, dass Israel „der Jimmy Saville der Völker“ sei.
Jenny Tonge, ein linksgerichteter Kamerad des Reiches und Möchtegern-Corbynist, verlangt eine Untersuchung, ob die Rettungsmission, die Israel nach Haiti geschickt hatte, eine geheime Agenda des Organraubs für Juden in Israel gehabt habe.
Wir haben Gewerkschaften, die Beziehungen mit Israel, und nur mit Israel, abbrechen, linke Demonstranten, die die israelische Theatergruppe im The Globe niederschreien, und nur die israelische Gruppe.
Beinazir Lasharie, eine Labour Stadträtin in Kensington und Chelsea teilte auf Facebook ein Video, das behauptete, dass ISIS vom israelischen Geheimdienst geführt wird, und eine andere sagte, sie habe „überzeugende Beweise“, dass Israel hinter ISIS stecke. „Ich habe nichts gegen die Juden … ich teile das nur!“, schrieb sie. Antisemitischer Antizionismus hat nie etwas „gegen die Juden,“ sehen Sie. (Die Labour Partei hat seither Lasharie suspendiert, eine Untersuchung läuft.)
Es gibt auch unerbittliche linke intellektuelle Verleumdung. Das hat einige unserer Universitäten in Irrenhäuser verwandelt.
Ilan Pappe sagt, die US-Politik in der Region ist „auf den schmalen Weg eingegrenzt, der effektiv … von AIPAC vorgegeben ist.“
Yitzhak Laor behauptet, dass IDF „Todesschwadronen“ schuldig seien, „undifferenziert zu töten“, sowie Akte des „Sadismus“, einschliesslich der „Massenverhungern“ ausübten.
Omar Barghouti behauptet, Israel habe einen „unersättlichen Appetit“ für „Völkermord und die Intensivierung der ethnischen Säuberung.“
Yehuda Shenhav, in seinem Buch Jenseits der Zwei-Staaten-Lösung, behauptet, Israel sei „eine aggressive Kriegsmaschine,“ die „die Vernichtung des palästinensischen Volkes“ suche.
Die Einleitung zum Buch von Noam Chomsky und Ilan Pappe On Palästine – derzeit prominent in unseren High Street Buchhandlungen ausgestellt – verbreitet die Lüge, dass im Jahr 2014 Israel ein „systematisches Flächenbombardement einer ganzen Bevölkerung“ durchgeführt habe.
Was können wir über jedes dieser Beispiele sagen?
Jeder ist selbstbewusst ‚Links‘, nach etwas breiter Definition. Jeder ist ‚intellektuell‘ im Gramscianschen Sinn der Informiertheit über ein Weltbild. Und dieses Weltbild ist angesiedelt im trüben Grenzgebiet, wo ein moderner Antizionismus der besonders übertriebenen und obsessiven Art sich leicht vermischt mit klassischen antisemitischen Vergleichen, Bildern und Ideen.
Wie können wir den Zusammenbruch des Verhältnisses erklären?
Die Besetzung ist ein grosser Teil der Krise im Verhältnis zwischen den Juden und der Linken, natürlich. Was auch immer über den Selbstverteidigungscharakter des Sechs-Tage-Krieges im Jahr 1967 gesagt werden kann, oder über die gravierenden Sicherheitsprobleme, die Israel dazu bringen, nicht einfach aus dem Westjordanland zu marschieren ohne eine Vereinbarung, oder über die tatsächlichen Gründe für die Ablehnung der israelischen Friedensvorschläge in Camp David und Annapolis, bleibt eine nackte Tatsache – und für die meisten Menschen ist es die einzige Tatsache, die zählt, ich verstehe schon – dass die Palästinenser keinen eigenen Staat oder eine Abstimmung haben und schon bald werden es 50 Jahre sein seit 1967.
Doch das ist nicht die ganze Geschichte, noch lange nicht.
Die Linke muss auch härter nachdenken über unsere Beziehung zu ein paar unserer eigenen Werte – Assimilation und Universalismus. Wir müssen besser verstehen, wie wir diese Werte in unserem Verständnis von Israel und den Juden missbraucht haben, und als Ergebnis unser Verhältnis zum Zionismus als Projekt und Israel als Staat, verbogen haben.
Was meine ich damit?
Im späten 19. Jahrhundert, fühlten die meisten Linken, dass Assimilation die einzige akzeptable jüdische Reaktion auf den steigenden Antisemitismus war. Zum Beispiel Lenin – die ‚Guter Jude / Schlechter Jude‘-Dichotomie errichtend, die den Linken seither teuer war – schrieb, dass „die besten Juden noch nie gegen Assimilation anschrien.“ Viele der Linken missbilligten das Überleben des Judentums – der Juden als ein Volk mit dem Recht auf nationale Selbstbestimmung im Gegensatz zu Personen mit Bürgerrechten.
Die Linke hoffte, jüdisches Volkstum aufzulösen im Lösungsmittel des progressiven Universalismus. Das Proletariat, verstanden als universalistische Klasse par Excellence, sollte eine Weltrevolution auslösen, die „die Judenfrage“ ein für allemal „im Vorbeigehen“ lösen würde.
Doch dieser linke Universalismus war immer ‚unecht‘, wie Norman Geras es ausdrückte, weil er die Juden als „Sonderfall unter anderen Gruppen herausgriff in der Verpflichtung, sich mit Formen der politischen Freiheit zufrieden zu geben, in welchen ihre Identität nicht kollektiv geltend gemacht werden konnte.“ „Juden,“ notierte Geras, „müssen stattdessen lediglich mit den ihnen zur Verfügung stehenden Rechte als Individuen zufrieden sein.“
Und doch waren viele europäische Juden im 19. Jahrhundert und Anfangs des 20. Jahrhunderts Eiferer sowohl des Universalismus als auch der Assimilation; das war auch Name ihres Wunsches. (persönlich wünschte ich, die Geschichte hätte diesen Weg genommen.)
Aber hier ist das Ding. Die Weltgeschichte ging einen anderen Weg und die jüdische Geschichte ging mit. Doch die Linke hatte die Notiz nicht erhalten. Das ist die andere Erklärung für die Krise im Verhältnis der Linken und der Juden heute.
Dies ist der Weg, den die Geschichte ging: Das Scheitern der europäischen sozialistischen Revolution, der Aufstieg des Faschismus und Nationalsozialismus, die beispiellose Transformation des Angriffs auf die Juden in Form der Shoah, ein grosstechnischer Völkermord in der Mitte Europas, die Vertreibung der Juden aus den arabischen Ländern und die Degeneration der Russischen Revolution in Stalinismus und Antisemitismus. All dies hinterliess die Attraktivität der Assimilation und des Universalismus in Fetzen.
Als Reaktion darauf bestanden Juden darauf, ihre eigene Form der Beteiligung an der Moderne und der universellen Emanzipation zu definieren: Unterstützung für den Zionismus und eine Heimat für die Juden; die Gründung des Staates Israel, ein Nationalstaat in einer Welt der Nationalstaaten. Ob sie nach Israel umziehen oder nicht, war die Wahl aller ausser einem Splitter des Weltjudentums. Und das bleibt bis heute der Fall.
Entscheidend ist, dass Teile der Linken – bei weitem nicht alle – es versäumten, sich diesem grossen Bruch in der Weltgeschichte anzupassen. Das ist alles-entscheidend, denn es wandelte völlig die politische Bedeutung von „Antizionismus“ um. Antizionismus bedeutete eine Sache zu Anfang des 20. Jahrhunderts: eine Diskussion unter den Juden, zumeist, wie man am besten der Bedrohung durch den Antisemitismus begegnen könnte. Antizionismus ist nach dem Holocaust und nach der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 etwas ganz anderes geworden: Er ist zu einem Programm der umfassenden Feindschaft gegen alle ausser einem Splitter des Weltjudentums geworden, einem Programm zur Tilgung der real existierenden jüdischen Selbstbestimmung.
Es kam noch schlimmer. Dieser post-Holocaust, post-Israelische linke Antizionismus hat mit einigen Formen des arabischen Nationalismus und sogar dem politischen Islamismus konvergiert – die heute beide kodifiziert und einzigartig progressiv sind. Die Linke hat ihre eigene Version des Orientalismus, der die Palästinenser und Araber infantilisiert, sie über jede Kritik erhaben setzt, und sie zum Thema der endlosen westlichen Linken Wahnvorstellungen macht. Nehmen wir zum Beispiel Jeremy Corbyns wirklich unglaubliche Behauptung, dass Hamas und Hisbollah „langfristigen Frieden und soziale Gerechtigkeit und politische Gerechtigkeit in der gesamten Region herbeiführen.“
Diese Konvergenz zwischen Teilen der Linken und dem arabischen Nationalismus, und später Islamismus, wurde durch zwei Entwicklungen auf der Linken geglättet.
Im Osten injizierte die jahrzehntelange „antizionistische“ Propagandakampagne des kommunistischen Blocks während des Kalten Krieges einen „Anti-Imperialismus von Idioten“ in die globale Linke. Wir sprechen von der Massenveröffentlichung und den weltweiten Vertrieb von antisemitischen Materialien durch die kommunistischen Parteien und ihren Mitreisenden. Anthony Julius‘ Buch Trials of the Diaspora sagt uns, dass 230 Bücher in der UdSSR allein von 1969 bis 1985 über eine angebliche zionistisch-freimaurerische Verschwörung gegen Russland veröffentlicht wurden. Diese Bücher hatten eine kombinierte Auflage von 9,4 Millionen.
Im Westen hat David Hirsh beobachtet, dass, während Anti-Imperialismus zuvor „ein Wert unter einer ganzen Reihe war – Demokratie, Gleichheit, sexuelle und Geschlechter-Befreiung, Anti-Totalitarismus“ eingeschlossen – wurde er in den 1960er Jahren im Westen zu einem radikal neuen Status erhoben als „der zentrale Wert, vor und über allen anderen.“ Und kam ein neuer Manichäismus über die Linke. Israel und Palästina wurde umformuliert. Nicht mehr war ein Volk in einer komplexen, ungelösten, nationalen Frage mit einem weiteren Volk beteiligt. Jetzt wurde Israel „eine Schlüsselstelle des imperialistischen Systems“ und die Palästinenser wurden „der Widerstand“ gegen den Imperialismus.
Der linke „gesunde Menschenverstand“ verschob sich entsprechend. Nun war die Unterstützung der Feinde Israels – wofür auch immer diese Feinde standen, wie auch immer sie sich verhielten – eine linksgerichtete „antiimperialistische“ Pflicht: In anderen Worten, Antisemitismus wurde „progressiv.“ In einer Schrift im New Statesman nannte ich diese geistigen Krankheit „Campismus“. Welches Wort auch immer benutzt wird, wir brauchen das Konzept. Wie sonst können wir erklären, warum Judith Butler – eine führende lesbische, feministische und sozialistische Akademikerin – behaupten konnte, dass „das Verständnis von Hamas und Hisbollah als soziale Bewegungen, die progressiv sind, die auf der linken Seite stehen, die Teil einer globalen Linken sind, äusserst wichtig ist.“
Wenn die Linke nicht mehr zwischen dem faschistischen und dem fortschrittlichen unterscheiden kann, dann haben wir wirklich ein Problem.
Wie kann das Verhältnis wieder zusammengebracht werden?
Kurz gesagt, nicht mit einem „Israel richtig oder falsch“ -Ansatz. Prinzipiell falsch wird dieser Ansatz das Problem im Mittelpunkt der Beziehungen zwischen Juden und Linken nur noch schlimmer machen.
Und noch sollten wir unsere Pflicht aufgeben, einen palästinensischen Staat als Ausdruck der Selbstbestimmung der palästinensischen Volkes zu unterstützen.
Aber, seht mal, wir müssen grundlegend unseren wahnsinnigen Antizionismus überdenken.
Wir Linken müssen unsere Verweigerung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung von nur einem Volk, dem jüdischen Volk, überdenken.
Wir müssen unser Engagement überdenken, einen einzigen Staat in der ganzen weiten Welt zu boykottieren, den jüdischen. Diese Vereinzelung ist in der Konsequenz antisemitisch, fürchte ich, was auch immer die Motive der einzelnen Boykotteure sind.
Diese linken Ablehnungen und diese linken Verpflichtungen sind jetzt, ehrlich gesagt, gefährlich. Wir müssen sehen, dass dieser linke Antizionismus dicht an dicht mit einer Familie von Anti-Zionismen koexistiert, dass einige der Familienmitglieder gemein, bösartig und mörderisch sind, und dass die Linke hoffnungslos geworden ist darin, ihre eigenen Grenzen zu überwachen.
Unsere Aufgabe ist riesig: eine intellektuelle Brandschutzmauer zu bauen, die scharfe Kritik an der israelischen Politik – was legitim ist, wie es für jeden Nationalstaat legitim ist, und die, auch wenn unfair, nicht-tödlich bleibt – trennt von der Verbreitung von Dämonologie des Zionismus und Israels, die nicht legitim ist und die tödlich sein kann.
Darüber hinaus müssen wir unsere Nerven behalten, einige grundlegende Wahrheiten neu formulieren, und kreativer darüber nachdenken, wie wir in der Welt handeln können, um einen positiven Beitrag zur Sicherung dieser Wahrheiten zu leisten: dass Frieden nur durch Engagement und tiefe gegenseitige Anerkennung zwischen den beiden Völkern kommen wird, dass es keine Alternative zu Verhandlungen und gegenseitigen Kompromissen gibt, dass eine Vereinbarung über den endgültigen Status zwei Staaten für zwei Völker sichert.
Alan Johnson kann ich nur in Teilbereichen zustimmen. Was mir auffällt, ist, dass er das Verhältnis von Linken und Juden als erstes auf ein mögliches Missverständnis reduzieren will: „Was ging schief?“
Vielleicht ist es ein rhetorischer Schlenker, wenn er fragt, warum „… die Linke Großbritanniens unkritisch sein sollte bezüglich der israelischen Politik. Die Linke in Israel ist es nicht, warum also sollten wir …“? Statt an der faktisch zweifelsfreien antisemitischen Positionierung der Linken scharfe Kritik zu üben, baut er für diese Brücken.
Zu guter Letzt behauptet er mehrfach, dass nur Teile der Linken antisemitisch sind. Dabei ist das genaue Gegenteil richtig: Nur kleine Teile der Linken sind explizit nicht antisemitisch. Zu ersterem Ergebnis kann nur gelangen, wer ausblendet, dass „Israelkritik“, Antizionismus und Antisemitismus fast durchgehend das Gleiche sind. Auch wenn Linke nicht den vulgären Judenhass der Nazis teilen, sie sind, was die reale Vernichtung des jüdischen Staates – und damit der jüdischen Gemeinschaft – betrifft, ganz nah an den Endlösungsvorstellungen der Nazis dran.
Nur eine grobe Realitätsverzerrung führt dazu, dem antisemitischen Führer der Labour Party zu bescheinigen, er würde nicht dem Antisemitismus frönen. Woher rührt diese auffällige Beißhemmung? Ist es der Versuch, um jeden Preis noch einen Zugang zu einer „Linken“ offenzuhalten, die schon seit Langem jegliche politische und moralische Integrität verloren hat? Einzig diese mikroskopisch kleinen, rein theoretischen Optionen würde die vielen Inkonsequenzen von Alan Johnsons Vortrag in irgend einer Form noch nachvollziehbar erscheinen lassen. Für diesen Optimismus sehe ich in der realen Welt nicht den allerkleinsten Hinweis.
Der Verweis auf „nur ein Teil der Linken“ ist, denke ich ein rhetorischer Kunstgriff, der sein Zielpublikum, die Linken, nicht zum vornherein abschrecken soll.
Aber bezüglich Corbyn haben wir wohl nicht denselben Text gelesen. Der wird vom Autor eindeutig als Antisemitisch qualifiziert, meiner bescheidenen Meinung nach.
Insgesamt gefällt mir der Text sehr gut. Zum Einstieg will er sein Publikum versöhnlich stimmen, nur um dann um so härter zuzuschlagen und den eindeutig vorhandenen sozialistischen linken Antisemitismus klar zu denunzieren.