Rabbi Sacks über den Nahostkonflikt
Rabbi Sacks, 2.11.2014, Facebook
Gestern sprach Rabbi Sacks in einer Debatte im House of Lords über die Situation in Nordafrika und dem mittleren Osten. Unten ist ein Transkript seine Rede. Ein Video folgt demnächst.
My Lords, ich danke auch dem edlen Herrn, Lord Risby, für das Initiieren dieser wichtigen Debatte. Und zunächst deklariere ich meine Interessen. Ich bin ein Jude. Israel ist daher für mich der Ort, wo mein Volk vor beinahe viertausend Jahren geboren ist, der Ort, wohin Abraham und Sarah gereist sind, wo Amos seine Vision sozialer Gerechtigkeit ausgesprochen hat, und wo Jesaja von einer Welt in Frieden geträumt hat, wo David die Psalmen komponierte und wo Salomon den Tempel baute — und dies hatte Konsequenzen nicht nur für die Juden, sondern auch für die Christen und Muslime, die Abraham als ihren Vorvater im Glauben beanspruchen, und dessen Gott sie ihren eigenen nennen.
Dies hatte tragische Folgen über das ganze Mittelalter, weil Christen und Muslime, jeder auf seine Weise, beanspruchten, die Juden als das Volk Gottes abgelöst zu haben und sich deshalb auch als Erben des heiligen Landes betrachteten. Der ansonsten heilige Augustinus erklärte, dass die Juden mit dem Fluch von Kain belegt sind, dazu bestimmt, ruhelose Wanderer auf Erden zu sein ohne Heimat. Der Islam beansprucht jedes Land, das einmal unter muslimische Herrschaft gelangt ist, ab sofort und immerfort als Dar Al Islam, also Land, das rechtmässig der Umma, dem muslimischen Volk, gehört, und jede andere Herrschaft muss daher illegitim sein. Nach beiden Theologien haben die Juden kein Recht auf ihre angestammte Heimat.
Vor einem halben Jahrhundert wären diese Theologien als irrelevant betrachtet worden. Der Westen hat sich weiterentwickelt. Nach einem Jahrhundert voller Religionskriege nach der Reformation erkannte er die Notwendigkeit der Säkularisierung der Macht. Dies erlaubte den Vereinten Nationen in der Teilungsabstimmung von 1947, den Juden das Recht auf einen eigenen Staat nach zweitausend Jahren Exil und Verfolgung zuzugestehen. Schlussendlich gab es Friedensvereinbarungen mit Ägypten und Jordanien und einen intensiven Prozess mit den Palästinensern. Wenn die Macht säkularisiert ist, dann ist Frieden möglich.
Heute jedoch durchlaufen der mittlere Osten und Teile von Asien und Afrike seismische Veränderungen in die exakt gegenteilige Richtung. Die Menschen de-säkularisieren sich. Sie fühlen sich verraten von säkularen nationalen Regierungen, die darin versagt haben, Wohlstand und nationalen Stolz zu liefern. Sie betrachten die nationalen Grenzen, die von Kolonialmächten aufgedrängt wurden, als künstlich und veraltet. Sie sind uninspiriert von der säkularen Kultur des Westens mit seinem Maximum an Wahlmöglichkeiten und dem Minimum an Sinn. Und sie sind zu Glauben gelangt, dass das Heil in der Rückkehr zum Islam besteht, der ihre enge Welt wie ein Kolossus beherrscht hat für den grösseren Teil der letzten Tausend Jahre.
Und obwohl ihr Glaube der Modernität feindlich gesinnt ist, so verstehen sie doch manchmal die Modernität besser als ihre eigenen Schöpfer im Westen. Sie wissen, dass, dank des Internets, Youtube und den sozialen Medien, Kommunikation, und sogar die Politik selbst, global geworden ist, und sie wissen ebenfalls, dass die grossen Monotheismen die mächtigsten globalen Gemeinschaften der Welt sind, viel breiter und tiefer in ihrer Reichweite als jeder Nationalstaat. Und die religiösen Radikalen bieten jungen Menschen die Chance, zu kämpfen und zu sterben für ihren Glauben, dadurch Ruhm auf Erden zu gewinnen und Unsterblichkeit im Himmel. Sie haben begonnen, im Westen zu rekrutieren, und sie haben grade erst angefangen damit.
Doch wenn antike Theologien für politische Ziele benutzt werden, dann sprechen sie eine äusserst gefährliche Sprache. Beispielsweise Hamas und Hizbollah, beide definieren sich selbst als religiöse Bewegungen, lehnen es ab, die Legitimität des Staates Israel innerhalb irgendwelcher Grenzen anzuerkennen und suchen ausschliesslich seine komplette Zerstörung.
Die Islamisten wissen auch, dass der einzige Weg, wie sie die Sympathie des Westens gewinnen können, ist, Israel zu dämonisieren. Sie wissen, dass sie keine Unterstützung für ISIS, Boko Haram, oder den Islamischen Jihad gewinnen können, doch wenn man Israel die Schuld geben kann, dann gewinnen sie die Unterstützung von Akademikern, Gewerkschaften und den Medien und lenken so die Aufmerksamkeit weg von den Massakern in Syrien und dem Iraq, dem langsamen Versinken anderer Länder im Chaos, und der ethnischen Säuberung von Christen in der ganzen Region.
Sie wiederholen auf diese Weise das Versagen genau jener Regime, gegen die sie sich aufgelehnt haben, die seit fünzig Jahren Widerspruch unterdrückt haben, indem sie Israel dämonisierten als Ursache für alles, was schief läuft in der arabischen oder islamischen Welt. Wenn man anderen die Schuld gibt für eigenes Versagen, dann schädigt man nicht nur sie, sondern auch sich selbst und das eigene Volk. Um frei zu sein muss man den Hass loslassen. Und wenn du zulässt, dass Hassreden den Westen infizieren, wie es bereits geschehen ist in manchen unserer Universitäten, Gefängnissen und sogar Schulen, dann ist auch unsere eigene Freiheit in Gefahr.
My Lords, ich und die überwiegende Mehrheit der jüdischen Gemeinschaft kümmern uns sehr um die Zukunft der Palästinenser. Wir wollen, dass palästinensische Kinder, genauso wie israelische Kinder, eine Zukunft in Frieden, Wohlstand, Freiheit und Hoffnung haben. Was auch der Grund ist, weshalb wir gegen jene sind, die palästinensischen Kindern beibringen, jene zu hassen, mit denen sie eines Tages zusammenleben müssen; die Geld, das für humanitäre Zwecke gespendet wurde, nehmen, und davon Waffen kaufen und Tunnels graben, um die Region zurückzuführen in ein dunkles Zeitalter des Barbarentums.
Allgemeiner formuliert sagen wir im Namen des Gottes von Abraham, dem allmächtigen, gnädigen und mitfühlenden Gott, dass die Religion, in deren Namen Gräueltaten verübt werden, unschuldige Menschen geschlachtet und geköpft werden, Kinder als Sklaven behandelt, Zivilisten in menschliche Schutzschilde verwandelt, und junge Menschen in Waffen der Selbstzerstörung verwandelt werden, nicht der Islam ist, der einst die Bewunderung der Welt verdient hat, noch dass ihr Gott der Gott von Abraham ist. Es war Nietzsche, nicht die Propheten, die den Machtwillen angebetet haben. Es war Machiavelli, nicht die heilige Schrift, die gelehrt hat, dass es besser ist, gefürchtet als geliebt zu werden.
Jede Religion muss mit seinen dunklen Engeln ringen, und das müssen wir heute tun: Juden, Christen und Muslime. Weil wir alle Kinder Abrahams sind, und erst, wenn wir uns gegenseitig Platz machen füreinander als Brüder und Schwestern, können wir die Welt von der Dunkelheit erlösen und zusammen in das Licht Gottes gehen.
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