Europa darf nicht der Erpressung von Erdoğan nachgeben
Burak Bekdil, 6.3.2020, Gatestone Institute
aus dem Englischen von Daniel Heiniger
- Die Türkei würde offenbar gerne mehr Fortschritte bei den Gesprächen über die Aufnahme als Vollmitglied der Europäischen Union sehen… Erdoğan würde es sicherlich begrüßen, wenn der Westen über sein massives Demokratiedefizit hinwegsehen und der Türkei helfen würde, sich noch mehr Dominanz über die griechischen Inseln vor ihrer Küste sowie ihre Ansprüche auf die Gasfelder unter dem östlichen Mittelmeer zu sichern.
- Erdoğan musste einen nicht-russischen Gegner finden, den er angreifen konnte, um den türkischen Zorn von ihm weg auf ein anderes gewähltes Ziel abzulenken. Welches Ziel wäre besser geeignet als die EU, zu der die meisten Türken eine Hassliebe haben? Die Öffnung der türkischen Grenztore und die Überschwemmung Europas mit Migranten würde dem durchschnittlichen Türken sicher gefallen…
- Leider muss Europa, um seine Freiheit und Souveränität zu schützen, zurückschlagen. Es muss sich weigern, die Erdogans Geiseln zu akzeptieren… Wenn die ersten Gruppen in diesem Mini-Exodus aus der Türkei eher mit einer ernsthaften Blockade als mit herzlichen und gastfreundlichen Einheimischen konfrontiert werden, werden potenzielle Migranten von einer so gefährlichen Reise abgehalten. Was Griechenland allein ohne die Hilfe der EU erreichen kann, ist begrenzt…
Der islamistische Machthaber der Türkei, Präsident Recep Tayyip (Erdoğan), hat Europa mehrfach damit gedroht, „Millionen von Flüchtlingen in Ihre Richtung zu schicken“. Die Türkei wünscht sich offenbar mehr Fortschritte bei den Gesprächen, um ihr die Aufnahme als Vollmitglied der Europäischen Union zu ermöglichen. Im Moment sind diese Beitrittsverhandlungen ins Stocken geraten. Vielleicht wünscht er sich auch westliche Unterstützung – von der EU, den Vereinigten Staaten und der gesamten NATO – für seine Vorstellung einer idealen Architektur, um die Türkei im Nordwesten Syriens zu installieren.
Da kürzlich türkische Soldaten in Syrien unter direkter russischer militärischer Beteiligung getötet wurden, kann man wahrscheinlich davon ausgehen, dass die Unterstützung, die Erdoğan sowohl direkt als auch indirekt sucht, „Unterstützung für einen NATO-Verbündeten gegen die russische Aggression“ ist. Darüber hinaus würde es Erdoğan sicherlich auch begrüßen, wenn der Westen sein massives Demokratiedefizit übersehen würde und der Türkei helfen würde, sich noch mehr Dominanz über die griechischen Inseln vor ihrer Küste sowie ihre Ansprüche auf die Gasfelder unter dem östlichen Mittelmeer zu sichern.
Am 27. Februar drückte die türkische Regierung schließlich den Knopf, um die Drohung wahrzumachen: Millionen von (meist syrischen) Migranten auf türkischem Boden konnten nun frei nach Europa reisen; die türkischen Grenztore waren nun offen.
Warum beschloss Erdoğan jetzt, in den zutiefst problematischen Beziehungen seines Landes zur Europäischen Union auf die „nukleare Option“ zurückzugreifen? Es scheint bizarrerweise, dass Erdoğan beschloss, die EU zu bestrafen, weil er wütend war auf… Russland.
Als am 27. Februar syrische Streitkräfte, unterstützt von russischer Luftunterstützung, 34 türkische Soldaten in der Gegend von Idlib im Nordwesten Syriens, töteten, scheint das Ereignis Schockwellen durch eine türkische Öffentlichkeit ausgelöst zu haben, die bereits gespalten war: zwischen einer heftigen nationalistischen Rhetorik, die die „heroische Mission“ unterstützt, die die türkischen Truppen nach Syrien führte, und einer rationalen Infragestellung der Weisheit, Syrien und Russland – und dem Iran – in einem immer mehr wie ein syrischer Sumpf aussehenden Gebiet zu konfrontieren. Es mag auch die Befürchtung gegeben haben, dass die öffentlichen Unruhen um die in die Halbmond- und Sternenflagge gehüllten Särge die sinkende Popularität von Erdoğan noch weiter untergraben könnten.
Für die Türkei ist eine offene Konfrontation mit Russland keine Option. Im November 2015, als die Türkei das letzte Mal versuchte, Russland zu bestrafen, das Sanktionen gegen türkische Unternehmen verhängt hatte, nachdem die Türkei einen russischen Jet abgeschossen hatte, zwang sie Erdoğan in die Knie: In einer seltenen Schau von Reue entschuldigte sich Erdoğan beim russischen Präsidenten Wladimir Putin dafür, den russischen Su-24-Kampfjet im syrischen Luftraum abgeschossen zu haben.
Es folgte eine Vernunftehe: Die Feinde aus der Zeit des Kalten Krieges wurden zu „strategischen Partnern“ – ein Titel, der durch die Vereinbarung gekrönt wurde, dass die Türkei russische Boden-Luft-Verteidigungssysteme vom Typ S-400 auf Kosten der Verteidigungsbeschaffungsbindung der Türkei an ihre NATO-Verbündeten kaufte. Seit der Su-24-Krise ist Russland für Erdoğan „unantastbar“ geblieben.
Nach dem Tod der 34 Soldaten wurde Erdoğan von einer wütenden Öffentlichkeit in die Ecke gedrängt und musste einen nicht-russischen Gegner finden, den er angreifen konnte, um den türkischen Zorn von ihm weg und auf ein anderes gewähltes Ziel abzulenken. Welches Ziel wäre besser geeignet als die EU, zu der die meisten Türken eine Hassliebe haben? Die Öffnung der türkischen Grenztore und die Überschwemmung Europas mit Migranten würde sicherlich dem durchschnittlichen Türken gefallen, der es hasst, mit etwa 3,6 Millionen syrischen Flüchtlingen zu leben und – um der chauvinistischen türkischen Psyche zu helfen – die Idee liebt, den Europäern eine Lektion zu erteilen. Die Massen scheinen es immer zu lieben, wenn ihre Führer zu einer feindseligen und herablassenden Rhetorik gegen die Europäer greifen.
In Anlehnung an Erdoğans „Wütend in Syrien, aber auf Europa einprügelnd“-Psychologie warnte der Sprecher des türkischen Außenministeriums, Hamdi Aksoy, die westlichen Nationen, einschließlich der EU, davor, dass die Welle von Flüchtlingen und Migranten anhalten könnte, wenn sich die Situation in Idlib verschlechtert – mit anderen Worten, wenn Ihr uns in Idlib nicht helft, werdet Ihr noch mehr Flüchtlinge vor Eurer Tür haben. „Einige Asylsuchende und Migranten in unserem Land haben aus Sorge über die Entwicklung begonnen, sich auf unsere westlichen Grenzen zuzubewegen“, sagte Askoy. „Wenn sich die Situation verschlechtert, wird dieses Risiko weiter zunehmen“.
Ömer Çelik, ein Sprecher von Erdogans Regierungspartei, stimmte dem zu. „Die Türkei ist nicht mehr in der Lage, die Flüchtlinge aufzunehmen“, sagte er.
Zehntausende dieser Migranten (nicht nur Syrer) erhielten kostenlose Busfahrten von Istanbul zu den türkischen Landgrenzen mit Bulgarien und Griechenland, etwa 150 Meilen westlich der Stadt.
Der türkische Innenminister Süleyman Soylu liess am 1. März verlauten, dass innerhalb von drei Tagen bereits 100.000 Flüchtlinge die Grenzen nach Europa überschritten hätten, aber seine Erklärung scheint mehr Propagandagerede als Realität gewesen zu sein. Das Ganze wirkte eher wie ein medialer Stunt als eine echte, gut geplante Kampagne, um Hunderttausende von Migranten nach Europa zu schicken. (Im Jahr 2015, als die Migrantenkrise ihren Höhepunkt erreichte, erreichten durchschnittlich 10.000 Menschen pro Tag Griechenland).
Kurz nachdem Erdoğan seinen Schritt angekündigt hatte, die Schleusen der Türkei zu öffnen, schloss Griechenland seine Land- und Seegrenzen zur Türkei. An den Grenzübergängen sahen sich Hunderte von Migranten in einer wahrhaft tragischen Situation mit Stacheldrahtzäunen und Rauchgranaten konfrontiert. Einige Migranten, die im Niemandsland zwischen der Türkei und Griechenland festsaßen, versuchten, dem Rauch zu entkommen und auf die türkische Seite zurückzukehren, nur um von den dortigen Behörden wieder zurückgeschickt zu werden.
Griechenland sagte unterdessen, dass seine Sicherheitskräfte 7.000 Migranten daran gehindert hätten, am Grenzübergang auf dem Landweg in griechisches Hoheitsgebiet einzureisen. „Die griechische Regierung wird alles tun, um ihr Territorium zu sichern und die europäischen Grenzen zu schützen“, kündigte Regierungssprecher Stelios Petsas an. Athen mobilisierte daraufhin zusätzliche Truppen am Grenzübergang. Am Wochenende des 28. Februar setzte Griechenland 52 Marineschiffe ein, um seine Inseln in der Nähe der Türkei zu bewachen. Am 1. März stießen wütende Migranten mit der griechischen Bereitschaftspolizei zusammen. Die Offiziere feuerten Tränengas auf die Migranten ab; einige versuchten, mit Gewalt nach Griechenland zu gelangen, warfen Steine auf die Polizei und schwangen Metallstangen gegen sie.
Die Anlandungen auf den griechischen Inseln schienen ruhiger zu sein. Nach Angaben der griechischen Polizei waren innerhalb weniger Stunden mindestens 500 Menschen auf dem Seeweg auf den Inseln Lesbos, Chios und Samos nahe der türkischen Küste angekommen. Auf Lesbos verhinderten Einheimische die Landung eines Bootes voller Migranten.
Unterdessen erklärte Frontex, die Grenzschutzagentur der EU, dass sie in höchster Alarmbereitschaft sei und zusätzliche Unterstützung für Griechenland bereitgestellt habe. „Wir … haben die Alarmstufe aller Grenzen mit der Türkei auf hoch erhöht“, sagte eine Frontex-Sprecherin. „Wir haben ein Ersuchen Griechenlands um zusätzliche Unterstützung erhalten. Wir haben bereits Schritte unternommen, um technische Ausrüstung und zusätzliche Offiziere nach Griechenland zu verlegen“.
Europa muss leider zurückschlagen, um seine Freiheit und Souveränität zu schützen. Es muss sich weigern, Erdoğans Geiseln zu akzeptieren. Die Sicherung der Seegrenzen in der Ägäis ist oft eine schwierige und teure Aufgabe, aber militärisch nicht unmöglich. Wenn die ersten Gruppen in diesem Mini-Exodus aus der Türkei eher mit einer ernsthaften Blockade als mit einer herzlichen und gastfreundlichen Aufnahme der Einheimischen konfrontiert werden, werden potenzielle Migranten von einer solch gefährlichen Reise abgehalten werden.
Was Griechenland allein ohne die Hilfe der EU erreichen kann, ist begrenzt: Griechenland hat 1% der EU-Bevölkerung, bearbeitet aber 11% aller Asylanträge. Schwergewichte aus der EU sollten schnell handeln, um Griechenland und Bulgarien dabei zu helfen, ihre Grenzen zur Türkei abzuriegeln – durch die Finanzierung von Grenzsicherungsprogrammen, die Entsendung von zusätzlichem Patrouillenpersonal und Ausrüstung sowie durch den Transfer von Technologie und Ausrüstung für eine sicherere Grenze zwischen der Türkei und Europa.
Burak Bekdil, einer der führenden Journalisten der Türkei, wurde kürzlich nach 29 Jahren von der bekanntesten Zeitung des Landes entlassen, weil er für Gatestone geschrieben hat, was in der Türkei geschieht. Er ist Fellow beim Nahost-Forum.
Erstveröffentlichung hier. Reproduktion mit freundlicher Genehmigung des Gatestone Instituts.
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