Der Islam und das Dunkle Zeitalter von Byzanz
John J. O’Neill, 7.10.2009, Gates of Vienna
In seinem Buch „Mohammed et Charlemagne“ von 1936 argumentierte der belgische Historiker Henri Pirenne detailreich, daß das Dunkle Zeitalter Europas recht plötzlich in der Mitte des 7. Jahrhunderts begann und daß dieser plötzliche und katastrophale Niedergang der Zivilisation an der Blockade des Mittelmeers durch den Islam lag. Bis zu dieser Zeit gab es, wie Pirenne zeigte, keinen Hinweis auf einen Niedergang der klassischen Kultur. Es stimmt, das weströmische Reich war im Jahr 476 als politische Einheit verschwunden, aber die alphabetisierte, wohlhabende und städtische Zivilisation, die wir die „klassische“ nennen, ging buchstäblich ununterbrochen weiter. Die Goten und andere „barbarische“ Völker, die die Provinzen des Westens nach 467 beherrschten, versuchten nicht, die römische Zivilisation und bürgerliche Gesellschaft zu zerstören. Tatsächlich taten sie, wie Pirenne detailreich zeigte, alles in ihrer Macht Stehende, um sie zu bewahren. Sie übernahmen die lateinische Sprache, nahmen imperiale Titel vom Kaiser in Konstantinopel an und prägten Goldmünzen, die mit dem Bild des oströmischen Kaisers geschmückt waren.
Dennoch kam diese blühende spätklassische Kultur im siebten Jahrhundert zu einem recht plötzlichen Ende: das Stadtleben ging zurück, wie auch der Handel; eine Tauschwirtschaft ersetzte das frühere Geldsystem, und was an Münzen verwendet wurde, war aus Silber geprägt statt aus Gold; die Alphabetisierung ging zurück, da der Papyrus aus Ägypten verschwand und teures Pergament seinen Platz einnahm; und die Macht der Könige schwand, als lokale „starke Männer“ oder „Barone“ in den Provinzen die Zügel der Macht ergriffen. Das Mittelalter hatte begonnen.
Pirennes großartiges Buch, das posthum veröffentlicht wurde, erhielt gemischten Zuspruch. Im Großen und Ganzen wurde eingeräumt, daß er auf etwas von großer Bedeutung gestoßen zu sein schien. Dennoch gab es Kritik, und die Kritik nahm über die Jahre nur zu.
Eines der vielsagendsten Argumente gegen Pirenne war die Frage von Byzanz. Historiker beeilten sich, darauf hinzuweisen, daß, während die Regionen des Westens zwischen dem siebten und dem zehnten Jahrhundert ein Dunkles Zeitalter erlebt haben mochten, das bei den Regionen des Ostens nicht der Fall war. Es gab keinen Niedergang in Byzanz, sagten sie. Wenn die arabische Blockade des Mittelmeers die klassische städtische Zivilisation im Westen stranguliert hatte, warum hatte es nicht dieselbe Auswirkung im Osten? Dies war eine Frage, auf die es keine leichte Antwort zu geben schien. Sogar Pirenne glaubte, daß Byzanz irgendwie mit den Arabern besser fertig geworden sei als der Westen. Zu seiner Zeit wurde allgemein angenommen, daß die klassische Zivilisation im Osten überlebt hatte und daß die Region weniger „mittelalterisiert“ worden sei als der Westen. Wir werden von den Historikern informiert, oder wurden das bis vor kurzem, daß das achte, neunte und zehnte Jahrhundert in Byzanz, nach den Worten von Sidney Painter, „drei glorreiche Jahrhunderte“ waren und daß in dieser Zeit „das byzantinische Reich der reichste Staat in Europa war, die stärkste Militärmacht, und die bei weitem Kultivierteste.“ (Sidney Painter, „A History of the Middle Ages, 284 – 1500“). Wir werden weiters darüber informiert, daß „während dieser drei Jahrhunderte, während Westeuropa ein Land teilweise gezähmter Barbaren war, das byzantinische Reich ein hochzivilisierter Staat war, wo eine höchst glückliche Verschmelzung von Christentum und Hellenismus eine faszinierende Kultur hervorbrachte.“ (ebd.)
Die obigen Meinungen, die bis in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gängig waren, wurden teilweise von byzantinischer Propaganda hervorgerufen, die immer danach strebte, Konstantinopel als das „Neue Rom“ darzustellen und als den Nachfolger des ersten christlichen Kaisers Konstantin in ungebrochener Linie der Autorität. Aber während des vergangenen halben Jahrhunderts hat die Archäologie bewiesen, daß dieses Bild eine Erfindung war.
Wir wissen jetzt in der Tat, daß das einst stolze Ostrom von den arabischen Angriffen verheert wurde. Dieselbe Armut und denselben Analphabetismus, den wir im Westen finden, finden wir nun auch im Osten. Städte befinden sich im Niedergang, und die Wissenschaft und Philosophie der Griechen und Römer verschwindet. In der Tat sinkt wie im Westen ein Dunkles Zeitalter hernieder. In den Worten von Cyril Mango:
„Man kann kaum den katastrophalen Bruch überschätzen, der im siebten Jahrhundert stattfand. Jeder, der den Bericht über die Ereignisse liest, wird betroffen sein von den Kalamitäten, die das Reich befielen, angefangen mit der persischen Invasion ganz am Beginn des Jahrhunderts, und weiter mit der arabischen Expansion etwa dreißig Jahre später – eine Serie von Rückschlägen, die das Reich einiger seiner reichsten Provinzen beraubte, namentlich Syrien, Palästina, Ägypten und später Nordafrika – wodurch es sowohl an Fläche als auch Bevölkerung auf weniger als die Hälfte seiner früheren Größe reduziert wurde. Aber die erzählenden Quellen zu lesen, gibt einem nur eine schwache Vorstellung von der tiefgreifenden Umwandlung, die diese Ereignisse begleitete. … Sie stellte für die byzantinischen Länder das Ende einer Lebensart dar – der städtischen Zivilisation der Antike – und den Beginn einer sehr verschiedenen und deutlich mittelalterlichen Welt.“ (Cyril Mango, „Byzantium, the Empire of New Rome“, S. 4). Mango erwähnte die buchstäbliche Aufgabe der byzantinischen Städte nach der Mitte des siebten Jahrhunderts, und die archäologische Fundlage dieser Siedlungen offenbart üblicherweise „einen dramatischen Bruch im siebten Jahrhundert, manchmal in Form der buchstäblichen Siedlungsaufgabe.“ (ebd., S. 8) Mit den Städten und dem Papyrusnachschub aus Ägypten ging auch die intellektuelle Klasse dahin, die nach dem siebten Jahrhundert auf eine „kleine Clique“ reduziert wurde (ebd., S. 9). Die Beweislage, wie Mango sie sieht, ist unmißverständlich: die „Katastrophe“ (wie er sie nennt) des siebten Jahrhunderts „ist das zentrale Ereignis der byzantinischen Geschichte.“ (ebd.)
Konstantinopel selbst, die mächtige millionenstarke Hauptstadt des Ostens, wurde bis zur Mitte des achten Jahrhunderts auf eine wahre Ruine reduziert. Mango zitiert ein Dokument aus der Zeit, das ein Bild der „Verlassenheit und Ruinierung“ heraufbeschwört. Wieder und wieder erfahren wir, daß zahlreiche Monumente – Statuen, Paläste, Bäder – einst existiert hatten, aber zerstört wurden. Mehr noch, die verbleibenden Monumente, von denen viele im vierten und fünften Jahrhundert entstanden sein mußten, wurden nicht länger als das verstanden, was sie waren. Sie hatten eine magische und allgemein unheilvolle Konnotation erlangt. (ebd., S. 80)
So groß war die Zerstörung, daß sogar die Bronzemünzen, das alltägliche Schmiermittel des Wirtschaftslebens, verschwanden. Mango: „An Stätten, wo es systematische Ausgrabungen gegeben hatte, wie in Athen, Korinth, Sardis und anderen, ist festgestellt worden, daß Bronzemünzen, das für alltägliche Transaktionen verwendete Kleingeld, im gesamten sechsten Jahrhundert und (abhängig von örtlichen Umständen) bis irgendwann im siebten Jahrhundert reichlich vorhanden waren, wonach sie beinahe verschwanden, dann im neunten Jahrhundert eine leichte Zunahme zeigten und erst im späten zehnten Jahrhundert wieder häufig wurden.“ (ebd., S. 72 – 73). Dennoch muß sogar die Behauptung, daß einige Münzen im neunten Jahrhundert auftauchten, mit Vorsicht behandelt werden. Mango erwähnt, daß bei Sardis der Zeitraum zwischen 491 und 616 von 1.011 Bronzemünzen repräsentiert wird, der Rest des siebten Jahrhunderts von etwa 90, „und das achte und neunte Jahrhundert zusammengenommen von nicht mehr als 9.“ (ebd., S. 73) Und „ähnliche Resultate hat man aus nahezu allen byzantinischen Provinzstädten erhalten.“ Selbst solch dürftige Beispiele, wie sie aus dem achten und neunten Jahrhundert überlebt haben (neun) sind üblicherweise von fragwürdiger Herkunft, eine Tatsache, die von Mango selbst erwähnt wird, der bemerkte, daß sich bei genauerer Inspektion oft herausstellt, daß diese entweder aus der Zeit vor dem Dunklen Zeitalter stammen oder aus der Zeit danach.
Wenn archäologische Funde in der Mitte des zehnten Jahrhunderts wieder auftauchen, ist die Zivilisation, die sie offenbaren, radikal verändert: das alte Byzanz der Spätantike ist verschwunden, und wir finden einen verarmten und halb analphabetischen Überrest; ein mittelalterliches Byzanz, auffallend ähnlich wie das mittelalterliche Frankreich, Deutschland und Italien, dessen Zeitgenosse es war. Auch hier finden wir eine Tausch- oder Semitauschwirtschaft; einen Niedergang der Bevölkerungszahl und Alphabetisierung und einen intoleranten und theokratischen Staat. Und der Bruchpunkt liegt in Byzanz wie im Westen in der ersten Hälfte des siebten Jahrhunderts – was genau dem Erscheinen der Araber und des Islams auf dem Schauplatz entspricht.
Die Archäologie hat daher Pirenne dramatisch unterstützt, lang nach seinem Tod, und eine Frage für ihn beantwortet, die er nicht beantworten konnte. Die Auswirkung des Islams war für die gesamte Christenheit verheerend, sowohl im Osten wie im Westen. Er war das Ereignis, das die klassische Zivilisation beendet hat. Die Zerstörung der klassischen Kultur in Europa lag weitgehend, wenn auch nicht völlig, an der wirtschaftlichen Blockade des Mittelmeers durch moslemische Piraterie. Dennoch wurde das Ende dieser Kultur in Regionen wie Ägypten und Syrien (ehemals große Zentren der klassischen und hellenistischen Zivilisation), die unter die Kontrolle des Islams gerieten, durch die völlige Verachtung des neuen Glaubens gegenüber den Kulturen und der Geschichte der Völker verursacht, über die er die Herrschaft erlangte. Von Anfang an richtete die Kalifatsregierung in Ägypten eine Kommission ein, deren Zweck es war, Gräber aus der Pharaonenzeit zu suchen, um sie zu plündern. So vollständig war die Zerstörung, daß wenig mehr als ein Jahrhundert nach der islamischen Eroberung niemand in Ägypten eine Ahnung hatte, wer die Große Pyramide erbaute – dies trotz der Tatsache, daß sehr umfangreiche Berichte über dieses Monument und den Pharao, der es errichtete, in den Werken vieler klassischer Autoren enthalten waren, vor allem bei Herodot und Diodorus Siculus. Unmittelbar vor der moslemischen Invasion waren die Bibliotheken und Akademien von Ägypten, Syrien und Babylonien vollgestopft gewesen mit den Werken dieser Autoren. Ihr Verschwinden und das Verschwinden des Wissens, das sie enthielten, kann nur bedeuten, wie christliche Polemiker jahrhundertelang behauptet hatten, daß die Moslems absichtlich eine große Menge klassischer Literatur vernichtet hatten.
Im Westen Europas und im Osten, in Nordafrika und im Nahen Osten, kam die klassische Zivilisation in der Mitte des siebten Jahrhunderts zu einem Ende, und der Grund für ihren Untergang kann in einem Wort zusammengefaßt werden: Islam.
„Holy Warriors: Islam and the Demise of Classical Civilization“, von John J. O’Neill
(Quelle der Übersetzung: hier)
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