Die paranoiden, hegemoniellen Wurzeln der messerstechenden Intifada
Jeffrey Goldberg, 16. 10. 2015, TheAtlantic.com
Die Messerstecherattacken auf Juden in Jerusalem und anderswo sind nicht auf palästinensische Frustration über Siedlungen zurückzuführen, sondern auf etwas tieferes.
Im September des Jahres 1928 stellte eine Gruppe von jüdischen Einwohnern von Jerusalem eine Bank vor der Westmauer des Tempelbergs auf, für den Komfort der älteren Betenden. Zusätzlich brachten sie eine Trennwand aus Holz mit, um die Geschlechter während des Gebets zu trennen. Muslimische Führer in Jerusalem betrachteten die Einführung von Möbeln in die Gasse vor der Wand als eine Provokation, Teil einer jüdischen Verschwörung, um langsam die Kontrolle über den gesamten Tempelberg zu übernehmen. Viele der Führer der palästinensischen Muslime glaubten — oder behaupteten, zu glauben — dass Juden eine Reihe von historischen und theologischen Verbindungen zur Klagemauer und auf den Berg, dem Gelände der Al-Aksa-Moschee und der Felsendom, fabrizierten, um das zionistische Projekt voranzubringen. Dieser Glaube forderte die muslimische Geschichte heraus — der Felsendom wurde von arabischen Eroberern Jerusalems auf der Stätte des zweiten jüdischen Tempels erbaut, um seine Erinnerung zu ehren (der Ort war zuvor von den christlichen Herrschern Jerusalems als eine Art von Tadel des Judentums geschändet worden, die verachtete Mutterreligion des Christentums). Juden selbst betrachten den Berg als heiligsten Ort ihres Glaubens. Die Westmauer, eine grosse Rückhaltewand aus der Zeit des Zweiten Tempels, ist nur ein Ersatzheiligtum.
Der geistige Führer der palästinensischen Muslime, der Mufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, wiegelte die Araber in Palästina gegen ihre jüdischen Nachbarn auf mit dem Argument, dass der Islam selbst in Gefahr sei. (Husseini würde später einer der wichtigsten muslimischen Verbündeten Hitlers werden.) Juden im britisch besetzten Palästina reagierten auf die muslimischen Beschimpfungen und forderten mehr Zugriff zur Klagemauer, manchmal hielten sie Demonstrationen ab an der heiligen Stätte. Im nächsten Jahr war Gewalt, die von ihren Nachbarn gegen Juden gerichtet war, häufiger geworden: Arabische Randalierer nahmen das Leben von 133 Juden in jenem Sommer; Britische Streitkräfte töteten 116 Araber in ihrem Versuch, die Unruhen zu unterwerfen. In Hebron wurde ein verheerendes Pogrom gegen alte jüdische Gemeinde der Stadt gestartet, nachdem moslemische Offizielle fabrizierte Fotografien eines beschädigten Felsendom verteilt hatten und das Gerücht verbreiteten, dass Juden den Schrein angegriffen hatten.
Die aktuelle „Messerstecher-Intifada,“ die jetzt in Israel stattfindet — ein Quasi-Aufstand, in dem junge Palästinenser versuchen, und es ihnen gelegentlich auch gelingt, Juden mit Messern zu töten — ist zu einem guten Teil von dem gleichen Satz an manipulierten Emotionen ausgelöst worden, die die anti-jüdischen Unruhen der 1920er Jahre ausgelöst hatten: ein tief empfundener Wunsch seitens der Palästinenser, den Tempelberg vor den Juden zu „schützen“.
Als Israel als Reaktion auf einen Angriff Jordaniens die Altstadt von Jerusalem im Juni des Jahres 1967 eroberte, war der erste Impuls von einigen Israelis, jüdisches Anrecht auf den Tempelberg zu behaupten. Zwischen 1948, dem Jahr von Israels Unabhängigkeit, und 1967 war Jordanien die Besatzungsmacht in Jerusalem und verbot Juden nicht nur den Zugang zum 35-Morgen-Berg — den Muslime als Haram al-Sharif kennen, das edle Heiligtum — aber auch zur Westmauer unten. Als Fallschirmjäger die Altstadt einnahmen, hissten sie die israelische Flagge oben auf der Kuppel des Felsendoms, aber der israelische Verteidigungsminister Moshe Dayan ordnete an, sie runterzunehmen und bald darauf versprach er den Führern der muslimischen Waqf, der Stiftung, die die Moschee und das Heiligtum kontrolliert, dass Israel sich nicht in ihre Aktivitäten einmischen werde. Seitdem haben israelische Regierungen den Status quo von Dayan eingehalten.
Es gibt einen weiteren Status Quo, der mit dem Tempelberg verbunden ist, der jedoch Anzeichen einer Schwächung aufweist. Dies ist ein religiöser Status quo. Die Mainstream-rabbinische Ansicht war viele Jahre lang, dass Juden nicht oben auf dem Berg herumgehen sollten, aus Angst, auf dem Allerheiligsten herumzutrampeln, dem inneren Heiligtum des Tempels, das nach der Tradition die Bundeslade beherbergt. Das Allerheiligste ist der Raum, in dem der jüdische Hohepriester das Tetragramm sprach, den unaussprechlichen Namen Gottes, an Jom Kippur. Die genaue Lage des Allerheiligsten ist nicht bekannt, und muslimische Behörden haben verhindert, dass Archäologen irgend eine Ausgrabung auf dem Berg durchführen, zum Teil aus Angst, dass solche Untersuchungen weitere Beweise für eine vor-islamische jüdische Präsenz aufdecken. Diese Mainstream-rabbinische Ansicht über den Berg — dass er die Richtung des jüdischen Gebets sein sollte und nicht ein Ort des jüdischen Gebets — hat das Leben von Jerusalems weltlichen Behörden erleichtert, indem muslimische und jüdische Gläubige blieben.
In den letzten Jahren jedoch haben kleine Gruppen von radikalen religiösen Erneuerern, die gegen die Mainstream-rabbinische Ansicht opponieren, haben versucht, den Berg wieder zu einem Ort des jüdischen Gebets zu machen. (Hier ist eine Story des New York Times Magazine, die ich über diese radikale Gruppen geschrieben habe) Diese Aktivisten haben Sympathisanten unter einigen rechtsextremen Politikern in Israel gewonnen, obwohl die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu den Status Quo der Trennung-der-Religionen nicht geändert hat.
Eine der Tragödien der Siedlungsbewegung ist, dass sie das, was vielleicht die eigentliche Ursache für den Nahost-Konflikt ist, verschleiert.
Die Palästinenser davon zu überzeugen, dass die israelische Regierung nicht versucht, den Status quo auf dem Berg zu ändern, war schwierig, weil viele der heutigen palästinensischen Führer, in der Art der palästinensischen Führung der 1920er Jahre, aktiv Gerüchte verbreiten, dass die israelische Regierung bestrebt sei, auf dem Berg eine ständige jüdische Präsenz zu etablieren.
Die Bemerkungen des Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas — nach allgemeinem Konsens der moderateste Führer in der kurzen Geschichte der palästinensischen Nationalbewegung — waren besonders scharf. Obwohl Abbas palästinensische Sicherheitsdienste autorisiert hat, mit ihren israelischen Kollegen bei der Bekämpfung extremistischer Gewalt zusammenzuarbeiten, hat seine Rhetorik Spannungen entzündet. „Jeder Tropfen Blut, der in Jerusalem verschüttet wird, ist rein, jeder Märtyrer gelangt ins Paradies, und jede verletzte Person wird von Gott belohnt werden“, sagte er im letzten Monat, als Gerüchte über den Tempelberg verwirbelten. Er fuhr fort zu sagen, dass Juden „kein Recht haben, die Moschee mit ihren schmutzigen Füssen zu entweihen.“ Taleb Abu Arrar, ein israelischer Araber und Mitglied des Knesset, dem israelischen Parlament, argumentierte öffentlich, dass Juden den Tempelberg durch ihre Anwesenheit „entweihen“. (Vor vierzehn Jahren erzählte mir Jassir Arafat, der Führer der Palästinensischen Befreiungsorganisation, dass „jüdischen Autoritäten die Geschichte fälschen mit den Worten, der Tempel stand auf dem Haram al-Sharif. Ihr Tempel war irgendwo anders.“)
Diese Art von Kommentaren, kombiniert mit der Gewalt der letzten zwei Wochen, einschliesslich des Angriffs auf und das in Brand stecken eines jüdischen Heiligtums ausserhalb Nablus, deuten eine tragische Kontinuität zwischen den 1920er Jahren und heute an. Für diejenigen, die nicht nur an die Notwendigkeit, sondern auch an die praktische Möglichkeit einer gerechten Zwei-Staaten-Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt glauben — und vor allem für diejenigen, die glauben, dass das Siedlungsprojekt seit 1967 die Ursache des Konfliktes ist, sind die jüngsten Ereignisse ernüchternd.
Eine der Tragödien der Siedlerbewegung ist, dass sie verschleiert, was vielleicht die eigentliche Ursache für den Nahost-Konflikt ist: die mangelnde Bereitschaft vieler muslimischer Palästinenser, die Vorstellung zu akzeptieren, dass die Juden ein einheimisches Volk in diesem Land sind. Palästinenser glauben, ausschliesslich sie seien das, und die drittheiligste Stätte des Islam ist auch die heiligste Stätte einer anderen Religion, einer, dessen Anhänger den Begriff der muslimischen Verdrängung ablehnen. Der Status quo auf dem Tempelberg ist umsichtig und muss in Kraft bleiben. Er rettet Leben, Leben, die fundamentalistische jüdische Radikale riskieren würden, um ihre tausendjährigen Träume voran zu treiben. Doch er ist das Nebenprodukt der Intoleranz der Jerusalemer muslimischen Führung. Wenn Gewalt gegen Juden auftritt in Israel oder im Westjordanland, tendieren Analysten und Politiker von ausserhalb schnell zu einem Konsens, der besagt, dass diese Gewalt die unvermeidliche Folge der israelischen Besatzung und Besiedelung von palästinensischem Gebiet ist. John Kerry, der US-Aussenminister, sagte in einem Auftritt in Harvard zu Beginn dieser Woche, dass, „was passiert ist, dass, wenn wir nicht bald loslegen, eine Zwei-Staaten-Lösung möglicherweise allen gestohlen wird. Und es ist schon eine massive Zunahme der Siedlungen im Laufe der letzten Jahre.“ Er sagte weiter: „Jetzt haben Sie diese Gewalt, weil es eine wachsende Enttäuschung gibt und eine Frustration unter Israelis, die keinen Fortschritt sehen.“
(Am Freitagmorgen, im Gespräch mit NPRs Steve Inskeep, überarbeitete und erweiterte Kerry seine Kommentare, und kritisierte Abbas — passiv — für die Gewalt: „Es gibt keine Entschuldigung für die Gewalt … und die Palästinenser müssen verstehen, und Präsident Abbas hat sich zur Gewaltfreiheit verpflichtet. Er muss das verurteilen, laut und deutlich. Und er darf nicht in einiges der Hetze verfallen, die seine Stimme manchmal zu ermutigen gehört worden ist.“)
Viele Palästinenser glauben, dass „dies nicht ein Konflikt zwischen zwei nationalen Bewegungen ist, sondern ein Konflikt zwischen einer nationalen Bewegung und einer kolonialen und imperialistischen Einheit.“
Es ist manchmal schwierig für die Politiker wie Kerry, der so viel Zeit und Energie in die Suche nach einer Lösung für die israelisch-arabische Sackgasse gesteckt hat, um die Macht eines bestimmten palästinensischen Narrativs anzuerkennen, eines, das die Möglichkeit einer Lösung verhindert, dass Juden nationale und religiöse Gleichberechtigung zugestanden wird. In Haaretz beschreibt der Politologe der linken Mitte, Shlomo Avineri, eine wichtige Trennlinie, die oft unbemerkt bleibt, auch in Zeiten wie diesen: Viele Palästinenser glauben, dass „dies nicht ein Konflikt zwischen zwei nationalen Bewegungen ist, sondern ein Konflikt zwischen einer nationalen Bewegung (der palästinensischen) und einer kolonialen und imperialistischen Einheit (Israel).“ Er fährt fort zu schreiben: „Nach dieser Auffassung wird Israel wie alle kolonialen Bewegungen am Ende untergehen und verschwinden. Darüber hinaus, so die palästinensische Ansicht, sind die Juden kein Volk, sondern eine religiöse Gemeinschaft, und als solche nicht berechtigt zu nationaler Selbstbestimmung, was immerhin ein universelles Recht ist, zwingend notwendig.“
Avineri, wie die meisten vernünftigen Analysten, versteht die vielen und vielfältigen Gründe für das anhaltende Scheitern des Friedensprozesses:
Gegenseitiges Misstrauen zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen, Druck von Innen von den Ablehnungsfronten auf beiden Seiten, Jassir Arafats wiederholte Täuschungen, die Ermordung von Premierminister Yitzhak Rabin, die Wahlsiege der Likud in israelischen Wahlen, der palästinensische Terrorismus, anhaltende Siedlungsaktivitäten Israels in die Gebiete, die blutige Kluft zwischen Fatah und Hamas, amerikanische Präsidenten, die zu wenig (George W. Bush) oder zu viel und in einer falschen Weise (Barack Obama) taten, die politische Schwäche Mahmud Abbas, die Regierungen von Netanyahu, der alles mögliche tat, um wirksam Verhandlungen zu unterminieren. All das ist wahr, und jeder nimmt und wählt, was seinen Ansichten und Interessen entspricht — aber über all dem liegt ein grundlegender Unterschied in der Art, wie jede Seite den Konflikt sieht, ein Unterschied, den viele zu übersehen neigen oder sogar bewusst übersehen.
Die Gewalt der letzten zwei Wochen, ermutigt und angestachelt von den Gerüchtelieferanten, die jetzt sowohl israelisches, als auch palästinensisches Blut an den Händen haben, wurzelt nicht in der israelischen Siedlungspolitik, sondern in einer Weltsicht, die die nationalen und religiösen Rechte der Juden verneint. Es wird keinen Frieden geben zwischen Israelis und Palästinensern, solange Parteien auf beiden Seiten des Konflikts weiterhin die nationalen und religiösen Rechte der anderen verweigern.
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