Kaukasus: Kampf der imperialen Träume
Amir Taherim, 22.11.2020, Gatestone Institute
aus dem Englischen von Daniel Heiniger
- Zunächst einmal könnte der Minisieg, den er [Erdogan] gegen Armenien errungen hat, Erdogans Appetit auf weitere Eroberungen geweckt haben. Pro-Erdogan-Zeitungen in der Türkei überschlagen sich in Lobhudeleien über den „Sieg im Kaukasus“, da es den Türken zum ersten Mal seit dem Ende des Osmanischen Reiches gelungen ist, einen Teil des Islamdoms von der Herrschaft der „Ungläubigen“ zu „befreien“.
- Schlimmer noch für Putin: Erdogan hat bereits angedeutet, dass er seine Fremdenlegion der Dschihadis in den Schutz „muslimischer Länder“ einbeziehen will.
- Indem er seinen Dschihadismus der Muslimbruderschaft mit pan-türkischen Themen vermischt, die an Enver Pascha erinnern, hofft Erdogan, das Atatürk-Narrativ durch ein neues Narrativ des religiösen Nationalismus zu ersetzen.
- Es ist kein Zufall, dass er auch seine anti-westliche Rhetorik schärft und seine Beziehungen zu den Grauen Wölfen, einer pan-türkischen Gruppe, die von der Europäischen Union als „terroristische Organisation“ verboten ist, intensiviert. Die „Grauen Wölfe“ träumen von einem türkischen Imperium, das sich vom Balkan bis nach Zentralasien erstreckt.
Während sich der Staub nach den jüngsten Kämpfen in Transkaukasien legt, werden wir möglicherweise Zeugen der Entstehung einer größeren Katastrophe, die weitere Teile des westasiatischen Bogens der Instabilität vom Kaspischen Becken bis zum Mittelmeer trifft.
Erinnern wir uns kurz an die Geschehnisse.
Irgendwann im Jahr 2018 bot der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seinem aserbaidschanischen Amtskollegen Ilham Aliev an, ihm bei der Rückeroberung der Enklave Berg-Karabach zu helfen, die Anfang der 1990er Jahre, kurz nach dem Zerfall des Sowjetimperiums, von den armenischen Nachbarn erobert worden war. Ankara startete ein Sofortprogramm zur Ausbildung und Bewaffnung der neu geschaffenen aserbaidschanischen Armee, die aus den in die Höhe schnellenden Öleinnahmen Aserbaidschans finanziert wurde. Die Tatsache, dass das so genannte Minsk-Trio, die Vereinigten Staaten, Frankreich und Russland, das den Status quo garantierte, das Interesse an der ganzen Sache verloren hatte, ermöglichte es Erdogan, die neue und noch zerbrechliche aserische Republik mit Hilfe von über 100 türkischen Beratern und etwa 300 syrischen Dschihadis, die Teil einer türkischen Fremdenlegion sind, auf eine kriegstaugliche Basis zu stellen.
In der Zwischenzeit hatten die aufeinander folgenden armenischen Regierungen die Verteidigungsbedürfnisse der neuen Nation vernachlässigt, da sie glaubten, Russland werde immer da sein, um Armenien zu beschützen, wie es dies seit dem 18. Jahrhundert getan hatte. Etwas mehr als ein Monat Kampf trieb die Armenier an verschiedenen Fronten in die Defensive und dann in die Niederlage. Doch als die aserbaidschanischen und türkischen Verbündeten sich auf den letzten, vernichtenden Schlag vorbereiteten, griff Russland ein, indem es die Führer von Baku und Eriwan nach Moskau rief, um einem verworrenen Waffenstillstand zuzustimmen, der zwar die Kämpfe beendete, aber die tiefen Ursachen des Konflikts unangetastet ließ. In typischer Manier opportunistischer Mächte nutzte Russland die Gelegenheit, seine bereits in Armenien vorhandene bedeutende militärische Präsenz auch auf Aserbaidschan auszudehnen. Nach dem Moskauer Abkommen wird eine russische „friedenserhaltende“ Truppe die Kontrolle über die Waffenstillstandslinie sowie über die Grenzen Aserbaidschans und Armeniens zum Iran übernehmen.
Unter dem Strich haben die Aserbaidschaner nicht viel gewonnen. Der größte Teil der umstrittenen Enklave, insbesondere ihre Hauptstadt Stepanakert (Khan Kandi auf azerisch), bleibt außerhalb ihrer Kontrolle, während ein guter Teil ihres eigenen Territoriums, insbesondere die Landroute zwischen dem eigentlichen Aserbaidschan und seiner „autonomen“ Enklave Nachitschewan, unter russische Kontrolle fällt.
Armenien verliert sechs Siedlungen, während mindestens die Hälfte der ethnisch armenischen Bevölkerung Berg-Karabachs sich zur Flucht entschlossen hat und vielfach ihre Dörfer niederbrannte. Noch schlimmer ist, dass Eriwan nun Moskau konsultieren, anhören und gehorchen muss, bevor es in Zukunft Racheversuche unternehmen kann. Die Botschaft ist klar: Transkaukasien war zwei Jahrhunderte lang ein russisches Protektorat und wird nun wieder zu einem russischen Glacis.
All dies mag daran erinnern, was Putin mit einigen anderen sogenannten „nahen Nachbarn“ Russlands getan hat. Er hat die Halbinsel Krim annektiert und aus dem ostukrainischen Donezk ein Lehen herausgeschnitzt. Er hat die georgische Enklave Südossetien annektiert und ein weiteres Lehen in Abchasien geschaffen. Er hat ein ähnliches Lehen im Osten Moldawiens unter russischem Schutz kreiert und sitzt Lettland mit seiner militärischen Aufrüstung im Nacken.
Und doch könnte sich Putin als einer der Verlierer in diesem tödlichen Spiel erweisen.
Zunächst einmal könnte der Minisieg, den er gegen Armenien errungen hat, Erdogans Appetit auf weitere Eroberungen geweckt haben. Pro-Erdogan-Zeitungen in der Türkei überschlagen sich in Lobhudeleien über den „Sieg im Kaukasus“, da es den Türken zum ersten Mal seit dem Ende des Osmanischen Reiches gelungen ist, einen Teil des Islamdoms von der Herrschaft der „Ungläubigen“ zu „befreien“. Achtundvierzig Stunden nach dem Waffenstillstand bat Erdogan das türkische Parlament, ihm die Entsendung einer Expeditionstruppe nach Aserbaidschan zu gestatten. Eine türkische Militärpräsenz in Transkaukasien könnte die Gefahr einer direkten Konfrontation zwischen Moskau und Ankara mit sich bringen, die sich bereits an einer Reihe anderer Orte, insbesondere in Syrien, Libyen und im Kosovo, im Konflikt befinden.
Schlimmer noch für Putin: Erdogan hat bereits angedeutet, dass er seine Fremdenlegion der Dschihadis in den Schutz „muslimischer Länder“ einbeziehen will. Die Moskauer Tageszeitung Nezavisimaya Gazeta zitiert russische Militärexperten, die davor warnen, dass Erdogan ein Auge darauf haben könnte, Ärger unter den Krimtataren zu schüren, die bereits mit der russischen Annexion unzufrieden sind. Ein kürzlicher Besuch eines Herrn, der sich als Thronfolger der Krim im Namen der Dynastie der Develt Giray-Tataren ausgibt, die im Mittelalter in Baghche-Sarai regierten, wurde in Ankara hoch gelobt. (Krimtataren wurden von Stalin massenhaft nach Sibirien transportiert, durften aber unter Chruschtschow in den 1950er Jahren zurückkehren).
Die Region ist voller muslimischer Länder, die von der Kontrolle durch die russischen „Ungläubigen“ „befreit“ werden sollen, insbesondere Dagestan, Tschetschenien, Inguschetien und Karatschai-Tscherkessien, ganz zu schweigen von den bevölkerungsreicheren autonomen Republiken Tatarstan und Baschkortostan.
Unmittelbarer betrachtet, könnten Erdogans Ambitionen die Existenz Armeniens bedrohen. Die Türken werfen den Armeniern vor, dem Osmanischen Reich im Ersten Weltkrieg in den Rücken gefallen zu sein, indem sie sich auf die Seite Russlands stellten. Es ist kein Zufall, dass Ankara die Erinnerung an das so genannte Iravan (Eriwan auf Armenisch) Khanat wiederbelebt hat, einen Mini-Staat unter einem selbsternannten türkischen Khan, der während der Zeit des iranischen Niedergangs unter den Kadscharen eine kurze Existenz genoss.
Mehrere Moskauer Zeitungen sagen, dass Erdogans anschwellender Ehrgeiz sowohl für Russland als auch für Armenien gefährlich sei.
Indem er seinen Dschihadismus der Muslimbruderschaft mit pan-türkischen Themen vermischt, die an Enver Pascha erinnern, hofft Erdogan, das Atatürk-Narrativ durch ein neues Narrativ des religiösen Nationalismus zu ersetzen. Es ist kein Zufall, dass er auch seine anti-westliche Rhetorik schärft und seine Beziehungen zu den Grauen Wölfen, einer pan-türkischen Gruppe, die von der Europäischen Union als „terroristische Organisation“ verboten ist, intensiviert. Die „Grauen Wölfe“ träumen von einem türkischen Imperium, das sich vom Balkan bis nach Zentralasien erstreckt. In ihrem am meisten geschätzten Buch „Die Weißen Lilien“ behaupten sie sogar, dass Finnen und Ungarn ebenfalls Türken seien und Teil des Reiches werden würden.
Das Chaos, das Putin und Erdogan in Transkaukasien angerichtet haben, könnte auch die armenische Militanz wiederbeleben. Es gibt etwa 12 Millionen Armenier auf der ganzen Welt, mehr als 3 Millionen allein in Russland. In den letzten Tagen haben wir Gerüchte über „Freiwillige“ aus verschiedenen Teilen Europas und Nordamerikas gehört, die in die Region gehen könnten, um gegen den „türkischen Feind“ zu kämpfen.
Vor zwei Jahrzehnten erlebten wir einen ähnlichen Trend, als Serben und Kroaten in der Diaspora auf den Balkan zurückkehrten, um um ihr jeweiliges Stück Land zu kämpfen. Fast drei Jahrzehnte lang, bis zum Fall des Sowjetreiches, war die armenische Geheimarmee zur Befreiung Armeniens (ASALA) sowohl der Türkei als auch Russland ein Dorn im Auge.
Ah, und was ist mit dem Iran? Er hat seine Grenze zu Armenien verloren und hat Russland wieder als Nachbarland. Die jüngste Episode enthüllte die Islamische Republik als ein Land ohne eine richtige Regierung im normalen Sinne des Wortes und damit als einen unwichtigen Zuschauer, während die „großen Tiere“ es unter sich ausmachen.
Amir Taheri war von 1972 bis 1979 Chefredakteur der Tageszeitung Kayhan im Iran. Er arbeitete an oder schrieb für unzählige Publikationen, veröffentlichte elf Bücher und ist seit 1987 Kolumnist bei Asharq Al-Awsat.
Dieser Artikel wurde ursprünglich von Asharq al-Awsat veröffentlicht und wird mit freundlicher Genehmigung des Autors abgedruckt.
Erstveröffentlichung hier. Reproduktion mit freundlicher Genehmigung des Gatestone Instituts.
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